© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/05 16. September 2005

Keine andere Alternative
Handelspolitik: Deutsch-russisches Rahmenabkommen über Erdgasleitung durch die Ostsee geschlossen
Wolfgang Seiffert

Selbst die kritischsten Beobachter (wie CDU-Vize Wolfgang Schäuble oder Ex-FDP-Chef Otto Graf Lambsdorff) der Unterzeichnung eines Rahmenabkommens zwischen Eon-Ruhrgas und der BASF sowie dem russischen Konzern Gasprom über den Bau einer Gaspipeline vom russischen Wyborg über die Ostsee nach Greifswald waren sich in einem Punkt mit den Initiatoren - dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und Kanzler Gerhard Schröder - einig: Das letzten Donnerstag unterzeichnete Projekt ist wirtschaftlich sinnvoll und nötig. Es erweitert Deutschlands Spielräume auf den Energiemärkten erheblich.

Mehr noch: Die neue Gasleitung wird gebraucht, weil die mitteleuropäischen Vorkommen allmählich zu Ende gehen - auch die der Niederlande. Die jährlich um drei Prozent ansteigende Nachfrage läßt sich auch nicht mehr aus den norwegischen Vorkommen decken. Rußland besitzt hingegen über 30 Prozent der derzeit bekannten Erdgasvorräte in der Welt. Da kommt die neue 1.200 Kilometer lange Pipeline gerade recht. Das bis 2010 zu realisierende Milliardenprojekt verhindert, daß Deutschland von relativ unsicheren und teuren Gaslieferungen aus dem Nahen Osten und dem kaspischen Raum abhängig wird.

Ex-Bundeswirtschaftsminister Graf Lambsdorff sieht daher auch - trotz politischer Vorbehalte, weil "über den Kopf der Polen hinweg zwischen Moskau und Berlin Vereinbarungen getroffen werden" - wirtschaftspolitisch "keine Alternative" zu dem Projekt. Selbst Unions-Kanzlerkandidatin Angela Merkel begrüßte daher bei einem Zusammentreffen mit Putin in der russischen Botschaft in Berlin die Unterzeichnung des Vertrages als "einen guten Tag für die deutsch-russischen Beziehungen" und sicherte dem russischen Präsidenten - in fließendem Russisch - zu, eine von ihr geführte Regierung würde die "strategische Partnerschaft mit Rußland fortführen und weiter ausbauen".

Doch die Gegner des Projektes haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben, die weiteren Verträge, die zu seiner Durchführung noch abgeschlossen werden müssen, zu stoppen oder wenigstens zu erschweren. Ihren Hauptangriff richten sie gegen den Umstand, daß die Gaspipeline auf dem Grund der Ostsee verläuft. Insbesondere Polen befürchtet, daß es gegenüber einer über Land verlaufenden Gasleitung finanzielle Verluste (keine Transitgebühren usw.) erleiden würde.

Deshalb drohte ein Kritiker aus der polnischen Staatsführung, man werde beim Bau der Pipeline durch die Wirtschaftszone vor der polnischen Ostseeküste "Probleme" haben. Doch solche Einwände sind juristisch unhaltbar. Zweifellos handelt es sich bei dem Projekt um eine Wirtschaftskooperation auf dem Gebiet der Energieversorgung zum gegenseitigen Vorteil beider Seiten, die Dritte in keiner Weise beeinträchtigt. Die Ostsee ist nach den relevanten internationalen Seerechtsvereinbarungen ein offenes Meer, in dem die vier Meeresfreiheiten (Artikel 2 der Hohe-See-Konvention) gelten: Schiffahrts-, Fischerei- und Überflugfreiheit sowie Freiheit der unterseeischen Kabel- und Rohrleitungsverlegung.

Die vierte dieser Freiheiten sieht das ausdrückliche Recht aller Staaten vor, Unterwasser-Pipelines zu legen. Auch die "ausschließliche Wirtschaftszone", die sich im Gefolge der Dritten Uno-Seerechtkonferenz durchgesetzt hat, hat daran nichts geändert. Sie gibt den Staaten einen größeren Raum des Meeres zur wirtschaftlichen Nutzung. Artikel 58 der Uno-Seerechtskonvention garantiert aber allen Drittstaaten in der Wirtschaftszone die Freiheit, Unterseerohrleitungen zu verlegen. An diese Normen sind alle Staaten gebunden.

Am gleichen Tag, an dem in Berlin die Unterzeichnung des Pipeline-Abkommens erfolgte, wurde Putin in Berlin mit der Nachricht konfrontiert, daß der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko die Regierung von Ministerpräsidentin Julia Timoschenko entlassen hat. Inzwischen ist bekannt, daß die "Ikone der Orangenen Revolution" - wie Timoschenko genannt wurde - in der künftigen ukrainischen Regierung nicht mehr vertreten sein, sondern, wie sie erklärte, ihren "eigenen Weg" ohne Juschtschenko gehen wird.

Auf den ersten Blick mag diese Nachricht nichts mit der Problematik der Energieversorgung und der Rolle Rußlands dabei zu tun haben. In der Tat sind die zunächst genannten Gründe für die Entlassung Timoschenkos ausschlaggebend gewesen: die immer stärkeren Korruptionsvorwürfe und der schon lange anhaltende Streit zwischen Präsident und Regierungschefin über die Wirtschaftspolitik des Landes. Doch wer tiefer analysiert, findet den eigentlichen Grund darin, daß Juschtschenko immer deutlicher begriffen hat, daß er die Energieversorgung der Ukraine ohne oder gar gegen Rußland nicht sichern kann und der von ihm gewünschte rasche Weg in die EU längst zu einer Fata Morgana geworden ist.

Mag es auch ein bloßes Gerücht sein, daß Putin als Bedingung für eine energiepolitische Zusammenarbeit gefordert habe, Timoschenko fallenzulassen. Fest steht, daß sie einer von Juschtschenko anvisierten engeren Kooperation mit Rußland im Wege stand. So verwundert es kaum, daß Putin sich in Berlin von den Ereignissen in Kiew nicht überrascht zeigte und aus dem Kanzleramtszimmer mit Juschtschenko telefonierte.

Bleibt als Fazit: Die Sicherung der eigenen Energieversorgung - sei es die Deutschlands oder der Ukraine - erfordert eine stabile Partnerschaft mit Rußland. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß sich beide Ereignisse just am Vorabend eines Putin-kritischen Seminars in den Räumen der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin vollzogen (siehe Artikel unten auf dieser Seite).

 

Prof. Dr. Wolfgang Seiffert lehrt am Zentrum für deutsches Recht der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Im Jahr 2000 veröffentlichte er das Buch "Wladimir W. Putin - Wiedergeburt einer Weltmacht?"


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