© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/05 16. September 2005

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Mündigkeit
Karl Heinzen

Sollte sich die Union den Kopf darüber zerbrochen haben, was es nach einer Regierungsübernahme in Berlin zu tun gelte, waren ihre Anstrengungen möglicherweise vergebens. Der deutliche Vorsprung, der ihr noch vor wenigen Wochen nachgesagt wurde, ist dahin. Zunächst mußten sich CDU und CSU von der Vorstellung verabschieden, ohne die Liberalen die absolute Mehrheit erreichen zu können. Nun dürfte dies nicht einmal gemeinsam mit der FDP gelingen.

Verständlicherweise sind jetzt all jene enttäuscht, die sich schon auf den Spaß gefreut hatten, dereinst Paul Kirchhofs markige Worte an seinen eventuellen Taten zu messen. Sie sollten jedoch ihre Verbitterung mäßigen und sich über die tiefe gesellschaftliche Verankerung eines demokratischen Verantwortungsbewußtseins freuen, die aus der Trendumkehr zugunsten der SPD spricht. Assistiert von einer Heerschar von Politologen und Demoskopen hat sich Angela Merkel blind darauf verlassen, daß die mehrheitlich von der Politik des Kanzlers enttäuschten Wähler einen Wechsel um jeden Preis anstreben würden.

Diese zynische Einschätzung scheint sich nun nicht zu bewahrheiten. Die Menschen in unserem Land mögen desillusioniert sein und angesichts der Vielfalt existentieller politischer und wirtschaftlicher Probleme unterdessen sogar ein wenig in Panik geraten. Sie neigen jedoch nicht zu einer prinzipiellen Kopflosigkeit, sondern fragen sehr wohl kritisch, ob unter einer neuen Regierung alles möglicherweise nicht noch viel schlimmer werden dürfte. Zudem ist ihr Gedächtnis keineswegs so schlecht wie behauptet. So haben sie nicht vergessen, daß den bisher sieben Jahren Schröder 16 Jahre Kohl vorausgingen, die finsterste Epoche der deutschen Nachkriegsgeschichte also, in der die Probleme bestenfalls ausgesessen wurden, ansonsten aber die Weichenstellungen in die Sackgassen von heute erfolgten.

Sicherlich liegt die Union nicht falsch in der Annahme, daß die Bevölkerung die Notwendigkeit einer verstärkten Umverteilung von oben nach unten erkannt hat, ohne die sich eine Einbindung der Eliten in unser demokratisches Gemeinwesen nicht länger erkaufen läßt. Die Bürger wollen sich dabei jedoch weiterhin als Souverän gewürdigt wissen, der nicht bloß der Erpressung einer asozialen Minderheit nachgibt, sondern aus freien Stücken das durch die Vernunft Gebotene beschließt. Dieses Gefühl vermag ihnen Gerhard Schröder, hierin noch ganz der Sozialdemokrat, glaubwürdiger zu vermitteln als seine Herausfordererin.


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