© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/05 16. September 2005

Fernsehen fördert die Gewaltbereitschaft
Manfred Spitzer kritisiert die mangelnde Kontrolle des Fernsehprogramms und dessen fatale Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche
Hans-Ulrich Pieper

Die Zeit, in der keiner wußte, wie Fernsehen wirklich wirkt, ist vorbei. Wer noch vor wenigen Jahren Fernsehprogrammverantwortliche nach Wirkungsanalysen ihrer Programme fragte, erhielt in der Regel hilflose Antworten oder eloquente Ausreden, die dem Zuschauer die Verantwortung zuschoben: Er könne doch abschalten, wenn ihm das Programm nicht gefalle.

Nunmehr liegt eine umfassende wissenschaftliche Studie vor, die eindeutige aufrüttelnde Ergebnisse zur Medienwirkung aufzeigt. Der Mediziner Manfred Spitzer, seit 1997 leitender ärztlicher Direktor der psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm, geht das Thema zunächst von der Gehirnforschung an: Die wesentliche Aufgabe des Gehirns besteht darin, Regelmäßigkeiten in der Erfahrung der Umgebung zu entdecken. Einzelne Erfahrungen sind zufälliger Natur und für den Menschen langfristig wenig hilfreich. Demgegenüber sind Erfahrungen der Umgebung, die sich wiederholen und damit einem regelhaften Zusammenhang in der Welt entsprechen, dazu geeignet, uns in Zukunft besser in der Umgebung zu orientieren.

Bildschirme können noch so bunt sein, das Bild ist flach und der Inhalt verglichen mit der Wirklichkeit arm, riecht nicht, schmeckt nicht und läßt sich nicht anfassen. Wenn nun die Erfahrungen insbesonderer junger Menschen zu einem nicht unwesentlichen Teil über Bildschirme und Lautsprecher erfolgen, geht damit auch das Risiko einher, daß sie durch ungünstige, unrealistische (weil reduzierte) Einflüsse leichter verformbar sind als die von Erwachsenen. Wer vor dem Bildschirm sitzt, bewegt sich nicht und gerät "aus der Form".

Bei Kindern ist das Sitzen vor dem Bildschirm mittlerweile die wichtigste Ursache für Übergewicht. "Wenn wir die Entwicklung so weiterlaufen lassen wie bisher, dann verursachen Bildschirme im Jahr 2020 hierzulande jährlich etwa 40.000 zusätzliche und vermeidbare Tote aufgrund von Herzinfarkten, Zuckerkrankheit und Schlaganfällen sowie Lungenkrebs." Eine vorsichtige Schätzung: "Es kann deutlich schlimmer kommen", faßt der Mediziner die empirischen Forschungen deutscher und amerikanischer Institute in einer Hochrechnung zusammen.

Eine weitere Erkenntnis: Fernsehen im Vorschul- und Schulalter wirkt sich nachteilig auf die Entwicklung der Fähigkeit des Lesens und Schreibens aus. Schulprobleme, die durch Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen infolge zunehmenden TV-Sehens entstehen, werden drastisch zunehmen. Die Auswirkungen des Fernsehens sind vielfältig: Die Zeit vor dem Fernseher wird anderswo, insbesondere bei sportlichen Aktivitäten im Freien eingespart.

Nicht erst seit dem Amoklauf des 19jährigen Robert Steinhäuser am Erfurter Gutenberg-Gymnasium im April 2002 wird den Menschen bewußt, daß die Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen zunimmt. Bereits die in den USA während der Jahre davor aufgetretenen spektakulären Ausbrüche von Gewalt in Schulen machten deutlich, daß Gewalt im Leben der Schüler eine zunehmende Rolle spielt. Bei einer 1993 in den USA durchgeführten Umfrage sagten 35 Prozent aller amerikanischen Schüler im 12. Schuljahr, sie würden nicht alt, denn sie glauben, vorher erschossen zu werden.

Wenn Amerika niest, bekommt Deutschland den Schnupfen. Spitzer rechnet wieder hoch: "Mit den üblichen etwa zehn Jahren Verzögerung bekommen wir amerikanische Verhältnisse." Das bedeutet: Wenn wir die Entwicklung so weiterlaufen lassen wie bisher, dann verursachen Bildschirme im Jahr 2020 hierzulande jährlich zusätzlich einige hundert Morde, einige tausend Vergewaltigungen und Zehntausende von Gewaltdelikten gegen Personen. "Ändern sich die politischen Verhältnisse und damit auch die kulturellen Gepflogenheiten zusätzlich (wie durch die Auswirkungen von Globalisierung und Migration), dann kann es auch deutlich schlimmer kommen", warnt der Wissenschaftler, dem die Entwicklung vor allem der Jugend besonders wichtig ist.

Ab den achtziger Jahren wurde das Fernsehen gewalthaltig. Die Einführung der kommerziellen Sender ab 1984 brachte einen stärkeren Konkurrenzdruck, und da gewalthaltige Sendungen zu höheren Einschaltquoten führen, resultierte zwangsläufig eine Spirale zunehmender Gewalt im Fernsehen. Es kam, wie es nach US-amerikanischem Muster kommen mußte: Die kommerziellen Sender loteten das Maß an gerade noch erträglicher Gewalt aus, sendeten es, und die öffentlich-rechtlichen Sender zogen notgedrungen nach, verloren aber dennoch deutlich an Werbeeinnahmen: So sind die Nettowerbeerträge der ARD seit 1988 um mehr als 63 Prozent gesunken.

Im deutschen Fernsehen kommt in 78,7 Prozent aller Sendungen Gewalt vor. Dieser Wert lag noch zu Beginn der neunziger Jahre bei knapp 47,7 Prozent, hat sich also in etwa einem Jahrzehnt auf amerikanische Verhältnisse gesteigert. In jeder Stunde TV-Programm werden im Schnitt 4,12 Morde und 5,11 andere schwere Gewalttaten gezeigt. Eine weitere Beobachtung: Während früher Musiksendungen im Fernsehen Gewaltdarstellungen definitionsgemäß praktisch ausschlossen, hat sich dies mit der Einführung der Musikvideos völlig verändert. In 87,5 Prozent der Videoclip-Sendungen, die fast ausschließlich von Kindern und Jugendlichen gesehen werden, findet sich das Thema Gewalt.

In Hinblick auf die Folgen der Gewalt für den Täter holt das deutsche Fernsehen das amerikanische rapide ein: In nur 26,2 Prozent der Fälle haben hierzulande gezeigte Gewalthandlungen negative Konsequenzen für den Täter. In 35,3 Prozent der Fälle gibt es keine Konsequenzen und in 12,9 Prozent (etwa bei jedem siebten Gewaltakt) sind die Konsequenzen positiv. (Der Rest der Fälle war nicht eindeutig zuzuordnen, weil der eher sympathische Täter krank war und in eine Klinik kam.)

Inzwischen gibt es etwa 800 empirische Untersuchungen zum Thema Auswirkungen von Mediengewalt. Leider meist US-amerikanische, die noch nicht in jedem Fall auf deutsche Verhältnisse zu übertragen sein dürften. Um so unverständlicher ist es, daß deutsche Programmverantwortliche, die über Millionen-Budgets verfügen, die Wirkung ihrer Medien bislang nicht umfassend untersuchen ließen. Oder plagt sie die Sorge vor möglichen Ergebnissen?

Wie die umfassende, erste breite wissenschaftliche deutsche Studie von Spitzer zeigt, ist die Sache nämlich klar: Fernsehen fördert die Gewaltbereitschaft und führt zu mehr Gewalt in der wirklichen Welt. Vor allem auf Kinder und Jugendliche hat die Glotze nachweisbare, deutliche und erschreckende Auswirkungen.

Manfred Spitzer: Vorsicht Bildschirm. Elektronische Medien, Gehirnentwicklung, Gesundheit und Gesellschaft. Ernst Klett Verlag, Stuttgart 2005, 303 Seiten, broschiert, 16,95 Euro


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