© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/05 23. September 2005

Pankraz,
das Haifischbecken und die Kabinettsbildung

Kürzlich hörte Pankraz in einem Bonner Café einem alten, einst sehr prominenten Polit-Veteranen zu, der seine Karriere seit langem hinter sich hat und von dem sich auch niemand mehr beraten lassen will, der also definitiv jenseits von Gut und Böse wohnt. Dieser stürmische Greis verfocht mit Eifer die These, daß Politik zu mindestens neunzig Prozent aus ganz persönlichen Haß- und Liebesgefühlen besteht, vor allem aus Haßgefühlen. "Alles andere ist bloße Einbildung", versicherte er, und seine Augen funkelten wissend.

Ereignisse, Ernennungen oder Abberufungen, die in der Zeitgeschichte übereinstimmend als Ausfluß eherner "objektiver Notwendigkeiten" hingestellt werden, reduzierte er im Handumdrehen auf reine Gefühlsdramaturgie. "Ach ja, der ist damals nicht ernannt worden, weil ihn Franz Josef abgrundtief haßte", erläuterte er etwa, oder: "Was glauben Sie denn, weshalb es seinerzeit so schnell zur Wiedervereinigung gekommen ist? Weil Kohl und Gorbatschow sich liebten, wirklich liebten, fast wie Mann und Frau."

Sobald in der Runde die Rede auf "gemeinsame Grundüberzeugungen von Politikern" kam, machte der Veteran ein verächtliche Grimasse. "Je gemeinsamer die Überzeugungen, um so größer der Haß aufeinander", definierte er. "Gemeinsame Überzeugungen, womöglich noch in derselben Partei, machen die Leute ja zu Konkurrenten. Und Konkurrenz ist der wichtigste Lieferant von Haß, überall, in jedem System, in jedem Beritt. Keine Regierungsbildung ist optimal in Hinblick auf die selbstgestellten Aufgaben, jedes neue Kabinett ist nichts weiter als ein Laufstall von sich gegenseitig belauernden Raubkatzen."

Ist das nun gut oder nicht gut für die Politik?" fragte Pankraz. Der Veteran zögerte keinen Augenblick. "Natürlich ist es gut! Politik ist Spiel um Macht, und nur wer schier platzt vor Machtgier, kann es mit Hoffnung auf Gewinn spielen. Der Haß auf den Konkurrenten kommt aus der Angst vor dem Machtverlust. Wer diese Angst und diesen Haß nicht kennt, der ist ein schlechter Politiker, und sie stellen ihm früher oder später ein Bein. Das ist wie bei den Haifischen. Wer von denen eine kleine Wunde zeigt, wird von den anderen zerrissen."

Der gute Politiker als Haifisch - das war nun nicht gerade eine erfrischende Perspektive. Außerdem schien zuviel dabei ausgeblendet, zum Beispiel der Blick auf die politische Rhetorik, die bekanntlich vor schönen Worten und guten Absichten überfließt. Alles nur Lüge und Beschönigung von Haifischnaturen? Oder vielleicht doch auch, zum Teil wenigstens, Widerlager und Eigenmacht, die von den Haifischen nicht so ohne weiteres in Dienst gestellt werden kann, die ihnen prinzipielle Grenzen setzt und der sie in vielerlei Hinsicht opfern müssen.

Und Macht braucht ja nicht nur geistige Anleitung, sondern auch Exekutionstruppen, die bei Laune gehalten werden müssen, was nur möglich ist, indem man ihnen einen Teil der Macht und der damit verbundenen Privilegien überläßt. Macht muß auf jeden Fall geteilt werden, wenn nicht mit eindeutigen Konkurrenten, so doch mit "treuen Anhängern" oder "blinden Gefolgsleuten", die über Nacht ebenfalls zu Konkurrenten werden können. Jeder politisch Mächtige schläft im Grunde auf Bajonetten.

Angesichts solcher Unbequemlichkeiten darf man sich verwundern, daß immer noch eine nicht unbeträchtliche Zahl aufstrebender Jünglinge und eine zunehmende Zahl ehrgeiziger Karrierefrauen Politiker werden wollen. Ist der Raubtierkäfig bzw. das Haifischbecken denn wirklich ein so attraktiver Aufenthaltsraum? Sicherlich, die Dauerpräsenz dort wird ziemlich gut bezahlt und bildet auch einen vergleichweise sicheren Arbeitsplatz. Aber die negativen Aspekte nehmen allmählich doch überhand.

Es schwindet, neben anderem, gerade das, was jener temperamentvolle Bonner Polit-Veteran als den Kern jedes echten Politikertums herausgestellt haben wollte: die Gefühlssphäre, die Leidenschaft und so letztlich auch der Genuß an der Macht, am Nach-oben-Kommen, am Obenbleiben. Mag sein, der Haß auf den Konkurrenten bleibt, nimmt vielleicht sogar noch zu, doch die Liebe zum Metier verdünnisiert sich, macht öder Routine Platz, vorgestanzten Verhaltensmustern, grausamem Phrasenbetrieb.

"Macht will handeln, nicht reden", notierte einst Goethe in den "Maximen und Reflexionen" (VII/49). Dafür waren schon in klassischen Politikzeiten die Gelegenheiten oftmals dünn gesät. Heute, in der Zeit der Gremien und der Talk-shows, der Zerreder und der Bedenkenträger, der Tabus und der Sprachregelungen, bewegt sich die Möglichkeit zum Handeln für Kabinettsmitglieder und Mandatsträger gegen Null. Sie müssen schon froh sein, wenn sie von dem, was vorgeht, einigermaßen gründlich und objektiv unterrichtet werden. Indes, sie können gar nicht mehr gründlich und objektiv unterrichtet werden.

Das Schwinden des Handlungsspielraums bewirkt ironischerweise eine schlimme Schrumpfung der politischen Rhetorik und Informatik. Nur scheinbar siegt die Information über die Aktion, schreiben die Medien den Politikern das Programm vor. Was wirklich passiert, ist eine Art umgekehrter Parasitismus: Die Medien, den politischen Akteuren eben noch den Lebenssaft absaugend, werden ihrerseits angepiekst, nämlich von der Politik regelrecht okkupiert, instrumentalisiert und bis zum Platzen mit Phrasen der Ohnmacht abgefüllt. Politik und Medien lähmen sich gegenseitig.

Bleibt nur ein einsamer Trost: Die Umstände jenseits der etablierten Politik gewinnen Eigenfahrt, führen spontan zu neuartigen, notwendigen, in der Logik der Geschichte liegenden Gestaltungen, denen sich die Politik dann doch eines Tages zuwenden muß. Vielleicht erleben wir dann auch wieder Politiker von einiger Tiefe des Gemüts.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen