© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/05 30. September 2005

Aus dem Blickwinkel der abschüssigen Welt
Karneval, Inquisition, Alltag: Am kommenden Montag endet in Berlin die große Erfolgsausstellung "Goya - Prophet der Moderne"
Wolfgang Saur

Goya in Berlin. Die noch bis kommenden Montag gezeigte Retrospektive in der Alten Nationalgalerie (JF 30/05) spiegelt und beleuchtet vier Aspekte in der 200jährigen Wirkungsgeschichte des finsteren Chronisten der Moderne:

Goya in Deutschland: Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wächst das Verständnis Goyas langsam. Die frühen Kunsthistoriker lieben neuchristlich romantische Bildkunst und über alles die Stilform Raffaels. Weit ist der Weg zu spanischer Eigenart, gar zu Goyas Dämonie. Explosiv wirkt da 1888 Justis Velásquez-Biographie. Sie erst öffnet der Forschung das Tor zur spanischen Kunst. So publiziert dann Justis Schüler Loga 1903 die erste wissenschaftliche Würdigung Goyas überhaupt. Faßt bürgerliche Kunstkritik den Meister als Erneuerer des spanischen Realismus, verknüpft ihn Tschudi (1883) mit der aktuellen Kunstdebatte, preist ihn als Frühimpressionisten. Im ästhetischen "Streit um die Moderne" drängen liberale Kritiker, Galeristen und Maler dogmatisch auf Durchsetzung des französischen Impressionismus als moderne Kunstform schlechthin - gegen gründerzeitlichen Pomp, aber auch gegen idealistische Weltsicht.

Goya als Sturmbock gegen Schönheit und Harmonie

Das Goya-Bild wandelt sich expressionistisch, eben wird der mystische El Greco wiederentdeckt. August Mayer versteht in seinen Büchern (1911, 1923) Goya als "gotischen Typ", als südlichen Gegenpol Rembrandts, egomanischen Sturmbock gegen Schönheit und Harmonie. Richard Muther schockt mit der These vom Revolutionär und Nihilisten (1904) und wird von Richard Hamann bestätigt (1932): "Nur einen Künstler hat Europa in dieser Zeit hervorgebracht, der alle revolutionären Ideen (...) mit voller Schärfe ausspricht", und "mit den alten Vorstellungen von der Göttlichkeit im Menschen aufgeräumt". Im Umkreis von Krieg und Avantgarde wird das zum Menetekel.

Hans Sedlmayrs konservative Geschichtsphilosophie "Verlust der Mitte" (1948) bringt Goya unterm Stichwort "Das entfesselte Chaos". Dem Katholiken Sedlmayr, Liebhaber von gotischer Symbolik und barockem Gesamtkunstwerk, graut vor dem "Pandämonium" von Massenwahn und Bestialisierung in Goyas Werk. So sieht konservative Kunsthistorie hier einen großen Abschluß: Die spanische Kunstentwicklung endet in Goya als letztem Repräsentanten der Periode, "die man die abendländische nennt und die vom frühen Mittelalter bis zur französischen Revolution reicht" (Tüngel).

Vom Abschiedsschmerz endlich zum dreisten Zeichenulk: Heute sehen Postmoderne sich bestätigt in Goyas Verfahren, den Glaubensverlust motivisch und formal in Konfusion umzusetzen.

Goya und Spanien: Seit je galten Wirklichkeitssinn und religiöser Impuls als konstitutiv für spanische Mentalität. 800 Jahre antiarabischer Kampf, fürstlicher Absolutismus, kirchliche Orthodoxie und Inquisition, Gegenreformation, afrikanische Nähe und Konnex mit Südamerika wirken nach. Dreifach wenigstens erscheint so künstlerisch der spanische Genius: als visionäres Moment, als bizarrer Reichtum der Form, als malerischer Naturalismus. Und dann: tristeza.

Goya integriert dies Erbe, formal und thematisch. Er gestaltet und radikalisiert Folklore, Aberglauben, Karneval, Inquisition, Stierkampf, Alltag. Aus Genre wird Sozialkritik, Karneval mutiert zum Alptraum, Aberglaube zum Hexensabbat, Heiligenbilder verweigern Erlösung; auf seinen christlichen Fresken degeneriert die Frömmigkeit vollends zu "dumpfem Staunen", "plumper Neugier" und "unterwürfiger Demut" (Held). So bestätigt, erneuert und beschließt Goya zugleich das künstlerische Spanien, das sich nach ihm dem europäischen Formensystem zuwendet.

Goya in seiner Epoche: Zeitgleich entfaltet eine ganze Generation in Deutschland ihre schöpferischen Ideen. Die Deutsche Bewegung schließt Kunst, Philosophie und Wissenschaft neu zu einem universalen Bild von Mensch und Geschichte zusammen. Terror und Krieg zerstören nicht nur altes Reich und Kirche, sie blasen auch die Spreu der Aufklärer weg. Die Negativität der Zeit erzwingt dialektisch Gegenkräfte: organisches Denken, lebendigen Geist, "Wiedergeburt aus Religion und höchster Wissenschaft".

Entgegen dem Klischee von Sentiment, Morbidität und Reaktion resignieren die Romantiker nicht. Das zeigt ihr bildnerischer Ertrag in der Nationalgalerie. Unerschrocken nehmen sie die epochale Herausforderung an und formulieren Alternativen zu Goyas Pessimismus. Anton Graff verherrlicht schöpferische Genialität, Schinkel entwirft mit seiner Mittelaltervision ein Gegenmodell zur aktuellen Misere, Caspar David Friedrich grübelt schwermütig über letzten Dingen. Graff ist der Porträtist der Goethezeit, Idealismus durchdringt sein Malerauge, beschwört erhabene Figuren von emotionaler Glut und geistigem Feuer. Er gestaltet von innen, erneuert die uralte Signaturenlehre. Schinkels gotische Lichtkathedrale projiziert symbolisch nationale Identität und revoziert religiöse Mitte, kulturelle Einheit, soziale Gemeinschaft. Friedrich setzt einsame Städter an den Rand der Welt, ins Antlitz des Unendlichen. Auch er geht durchs Nichts, doch bleibt er bei der nihilistischen Travestie nicht stehen. Die Formstruktur wird zur Heilsidee. "Hyperbolisch" durchdringt Friedrich seine Bilder, taucht sie in apokalyptisches Licht. Horizontal gespiegelt, bilden die zentrierten Scheitelpunkte der Kurven ein kosmisches Schema, in dessen Fokus die Figuren treten. Zwischen Abend und Morgen harren sie der Wiederkehr Gottes.

Goya und wir: Der aktuelle Goya-Kult verdankt sich postmoderner Dekonstruktion, abschüssiger Welt und driftender Erfahrung. Diese Blickrichtung bestimmt auch die Katalogbeiträge, deren Titel programmatisch lauten: "Unausdeutbar", "Hexenküche der Moderne", "Aus dem Porträt gefallen", "Exorzist", "Goyas unlesbare Gesichter".

Goya veranschaulicht einen ersten Zyklus der Moderne. Er beginnt mit Glaubensverlust und liberalen Ambitionen, führt über Terror und Krieg in gescheiterte Hoffnung. Als Reflex des Utopieverlusts bietet sich dies Erfahrungsmuster heute an, reklamiert doch eine postsozialistische Kulturelite intellektuelle und moralische Überlegenheit im dogmatischen "Verzicht" auf Wahrheit, Sinn, Orientierung. Gegen "starkes Denken", gegen das "Wesentliche" luxurieren nun Brüche, Widersprüche, überwuchern subjektive Differenzen alle Einheitsfunktion. Obsessive Entgrenzung torpediert jede sich schließende Sinnfigur. Das Zerbrechen moderner Utopie "verstrahlt" die Phasen einer zweiten und dritten Moderne: düster Adornos heroische Verzweiflung der "Nicht-Identität" und Verweigerung, dann nachtragisch, multikulturell lustvoll der promiske Karneval der Zeichen. Auch der beginnt bei Goya zu rumoren.

Der Verlust des Zentrums wird teils erlitten, teils bejaht

Goya reflektiert den epochalen Transzendenzverlust und Zerfall von Rangordnung symbolisch in der Zurücknahme ästhetischer Hierarchie, mit offenen Bildstrukturen, Kohärenzabbau, Zeichenautonomie. Je privater, desto radikaler seine Form, etwa in den legendären "Caprichos" (1799). In Nr. 43 bedrängen riesige Fledermäuse den Künstler: "Der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer" gilt als moderne Ikone schlechthin, Auftakt zum zweiten Teil der Radierfolge mit Hexen, Teufeln, Geistern.

Radikaler Formwandel: Perspektiven werden brüchig, Bildrahmen unklar, das kompositorische Gefüge erodiert, Landschaft und Architektur lösen sich auf, Körper werden unplastisch, die Konstellationen instabil, kurz: die Tektonik verfällt. Menschen und Dinge gleiten, rutschen weg, Motive verheddern sich. Selbst das Gesicht bleibt nicht verschont. Es verfratzt, erlischt, wird maskenhaft. Profaniert, verschwindet es im "Maskenspiel": Sind Gesicht und Larve nicht mehr unterscheidbar, wird alles Schein. Das macht Goyas Chiffren zu "Monumenten einer totalen Immanenz" (Wullen).

Zwischen den galanten Szenen des Rokoko-Idylls und seinen Kannibalenbildern, Irrenhäusern, zwischen "Sonnenschirm" und "Hexenflug" verharrt Goya in totaler Skepsis. "Ganz auf sich geworfen wird so der Künstler der Moderne zum Märtyrer seines Ingeniums ohne jegliche Erlösungshoffnung außer der künstlerischen Zeugenschaft" (Schuster).

Unsere Gegenwart bezeichnet eine metaphysische Krisis. In ihr kam der Wirklichkeit ihr Zentrum abhanden, sie franste aus. Dieser Verlust wird teils erlitten, teils aktiv bejaht. Horizontale Entgrenzung, vertikale Abschließung prägen "postmetaphysische Freiheit" um zum Urteilspruch. Als "Gesellschaft" versackt sie in Geschichte, als "Ich" verschwindet sie im Markt. Macht und Konsum: So unerbittlich und banal endet das europäische Subjekt. Verstrickt hat es sich in einem uferlosen Funktionsgeflecht, das tiefere Wahrheit nur verhüllt. Am Ende ist auch "das Leben in der ausgehaltenen Unsicherheit" nur selbstgefällige Stilisierung, Maske. Fällt sie, wird ein Licht, größer als Goyas Dämonen, wieder zu leuchten beginnen.

Die Ausstellung "Goya - Prophet der Moderne" ist noch bis zum 3. Oktober in der Alten Nationalgalerie, Bodestr. 1-3, Montag von 8 bis 18 Uhr, Do. bis 22 Uhr, Fr./Sa./So. bis 3 Uhr früh, zu sehen. Tel: 030 / 20 90 58 01

Goya, Capricho 43 - Der Traum/Schlaf der Vernunft bringt Ungeheur hervor (1797/98): Der erste Zyklus der Moderne beginnt mit Glaubensverlust und führt über Terror und Krieg in gescheiterte Hoffnung


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen