© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/05 07. Oktober 2005

PRO&CONTRA
Mehrheitswahlrecht einführen?
Friedrich Wilhelm Siebeke / Björn Clemens

D as derzeitige Gewirr bei der Regierungsbildung ist eine Folge des geltenden Verhältniswahlrechtes. Dieses Wahlrecht hat bereits zum Scheitern der Weimarer Republik geführt. Um den "Todeskeim des deutschen parlamentarischen Systems seit 1919" zu paralysieren, hatte die 1966 aus Union/SPD gebildete Große Koalition die Einführung des Mehrheitswahlrechts nach englischem Vorbild beschlossen. Der Fraktionsvorsitzende der SPD, Herbert Wehner, brachte mit Unterstützung führender SPD Politiker wie Willy Brandt, Helmut Schmidt, Karl Schiller mit der CDU eine derartige Koalitionsvereinbarung zustande. Da bei der Einführung des Mehrheitswahlrechts die FDP um ihre Existenz bangte, erreichte sie durch einen Seitenwechsel zur SPD - so durch den Sturz der NRW-Regierung Meyers und die Wahl Gustav Heinemanns zum Bundespräsidenten - die Beerdigung der Reformpläne.

Wie die jüngste Entwicklung am Beispiel der Linkspartei zeigt, wirkt das Verhältniswahlrecht nicht konsensbildend, sondern konsenszerstörend. Bei einem EU-Beitritt der Türkei ergäbe sich die Möglichkeit, durch Gründung einer Türkenpartei die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden. Die durch die Globalisierung eingetretene Belastung würde wegen der Schwierigkeiten bei der Mehrheitsbildung zu einer ernsthaften Gefährdung unserer parlamentarischen Demokratie führen. Die jahrzehntewährende Aussage "Bonn ist nicht Weimar" könnte sich in ihr Gegenteil verkehren.

Eine zweite Große Koalition aus Union und SPD hätte die Chance, durch Einführung des Persönlichkeitswahlrechts die aus dem Proporzwahlrecht drohenden Gefahren zu bannen und die politische Stabilität unserer Demokratie sicherzustellen. In einem solchen Fall hätten die Deutschen bereits am Wahlabend erfahren, welche Partei die Regierung bildet und in den nächsten vier Jahren für die Überwindung des Reformstillstandes verantwortlich ist.

 

Friedrich Wilhelm Siebeke ist Rechtsanwalt in Düsseldorf und Verfasser des Hohmann-Sondervotums des CDU-Bundesparteigerichts.

 

 

Rousseau hat in seiner Schrift vom Gesellschaftsvertrag die Unterscheidung zwischen dem Willen Aller, d.h. aller Einzelnen (volonté de tous) und dem Willen der Allgemeinheit (volonté generale) getroffen. Aufgabe des Parlamentes sei es, den Willen der Allgemeinheit durch Diskussion zu ermitteln und durchzusetzen. Dieses Idealziel zu erreichen, war der Parlamentarismus nie in der Lage. Statt dessen kann er nur - immerhin - die unterschiedlichen und gegenläufigen Interessen innerhalb einer Nation zu Gehör und zum Ausgleich bringen. Das setzt voraus, daß er sie überhaupt abbildet. Auf der Basis eines Mehrheitswahlrechts kann das nicht geleistet werden.

Bewirkt schon die Fünf-Prozent-Hürde eine unerträgliche Ausblendung kleinerer Gruppierungen - wobei klein in Deutschland mehr als eine Million Wähler bedeutet -, so würde das Mehrheitswahlrecht den endgültigen Abschied von parlamentarisch vertretener Meinungsvielfalt bedeuten. Der Kanon politischer Sachfragen läßt sich nicht auf die Zahl 2 (darauf liefe es hinaus) reduzieren. Es gibt nie nur Schwarz oder Weiß. Noch schwerer aber wiegt, daß die großen Parteien, die sich in einem solchen System behaupten würden, schon jetzt zu feige sind, bestimmte Fragen ernsthaft anzupacken ("Überfremdung darf kein Wahlkampfthema werden"), oder eine Einheitsmeinung, die im Volk keine Stütze hat (Euro), vertreten. Diese Tendenz würde durch ein Wahlrecht, das jede politische Konkurrenz im Ansatz erdrückt, verschlimmert.

Auch trägt das Argument der Stabilität nicht. Das gern strapazierte Beispiel der Weimarer Republik ist falsch: Die kleinen Parteien waren immer so klein, daß sie die Mehrheitsfindung im Reichstag nie gefährden konnten. Stabilität durch Mehrheitswahlrecht ist in Wahrheit die Zementierung einer Einheitsmeinung. Diese Stabilität hatte man schon in der DDR.

 

Dr. Björn Clemens ist Rechtsanwalt in Düsseldorf und Fachanwalt für Verwaltungsrecht.


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