© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/05 07. Oktober 2005

Geliebte mit Perlmuttgriff
Kino: T. Vinterbergs Parabel "Dear Wendy" mündet doch noch in Gesellschaftskritik
Michael Insel

Nicht Gewehre, sondern Menschen töten Menschen - mit dieser Halbwahrheit verteidigt die National Rifle Association (NRA), Lobbyorganisation der Rednecks und sonstigen Schießwütigen oder, wie sie sich selber bezeichnet, "älteste Bürgerrechtsorganisation der USA", traditionell das unveräußerliche Recht aller Amerikaner auf Waffenbesitz. Hollywood hat sich selten die Mühe gemacht, zu widersprechen - zumal Feuergefechte sich auf der Leinwand so prächtig in Szene setzen lassen.

Nun haben die Dänen Thomas Vinterberg (Regie) und Lars von Trier (Drehbuch), Mitbegründer des "Dogme 95"-Manifests, Amerikas Liebesaffäre mit der Schußwaffe beim Wort genommen. "Dear Wendy" ist im wesentlichen ein Monolog, in dem der 18jährige Dick ("Billy Elliot"-Star Jamie Bell) seiner Auserwählten, einem aparten antiken Revolver mit Perlmuttgriff, den er auf den Namen Wendy getauft hat, sein Herz bloßlegt.

Schauplatz des Films ist eine fiktive Bergarbeiterstadt im Südosten der USA mit dem Flair einer Wildwest-Kulisse und dem Mief des Provinznests, der Erzähler ein Einzelgänger, der aus Klaustrophobie nicht unter Tage, sondern als Aushilfskraft im Supermarkt arbeitet. Dort schließt er Freundschaft mit seinem Kollegen Stevie (Mark Webber), dem es ebenfalls an sozialer Kompetenz mangelt.

Aus Versatzstücken, die für ein realistisches Drama über die Verhältnisse abseits der schnellebigen US-Metropolen getaugt hätten, drehten Vinterberg und von Trier ein regelrechtes Kunst-Stück, eine hochstilisierte und dennoch merkwürdig bewegende Parabel. Die Handlung - insofern von Triers "Dogville" nicht unähnlich, doch dank Vinterbergs Regieführung weit weniger statisch - beschränkt sich auf zwei Drehorte: Der staubige menschenleere Platz in der Stadtmitte scheint nur auf Butch Cassidy und Sundance Kid zu warten, der stillgelegte Stollen, wo Dick und Stevie sich im Schießen üben, wird zu ihrer "Hole in the Wall"-Zuflucht.

Schon beim ersten Abdrücken verfällt Dick dem Zauber der Waffe. Aus dem schüchternen Teenager wird mit einem Schlag ein selbstbewußter junger Mann. Im Rausch dieser plötzlichen Allmacht schart er eine Gruppe jugendlicher Außenseiter um sich und führt sie in den elaborierten Verhaltenskodex der pazifistischen Geheimgesellschaft der "Dandies" ein, deren oberstes Gebot lautet: "Ziehe niemals deine Waffe, um zu töten." Setze man sie dem Tageslicht aus, so würde ihre wahre, mörderische Natur offenbar - wie von Trier treffend sagt: "Eine Schußwaffe wird in der Absicht hergestellt, Schaden anzurichten."

In ihrer unterirdischen Fantasiewelt richten sich Dick und seine Freunde einen "Tempel" aus Wohnzimmer und Bibliothek ein. Dort gehen sie "keinem anderen Beruf als der Eleganz" nach und kultivieren "die Idee der Schönheit am eigenen Körper": So beschrieb der Dichter Charles Baudelaire (1821-1867) die historische Figur des Dandy, der von Beau Brummells London des späten 18. bis zu den Pariser Symbolisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts in exaltiertem Protest gegen die Konformität der bürgerlichen Gesellschaft schwelgte.

Um sich von den Uneingeweihten abzuheben, kostümieren sie sich in Parade-Uniformen. Ihre Sprache ist ebenso Oscar Wilde wie dem Sechziger-Jahre-Pop der Zombies entlehnt, die auch den Soundtrack bestreiten. Den Höhepunkt des Clublebens aber bildet der liebevolle Umgang mit ihren metallenen "Partnern". Mit Hilfe von Geschichts- und anderen Lehrbüchern perfektionieren sie individuelle Schußtechniken, die den jeweiligen Charakter ihrer Waffe komplimentieren, und erleben, wie sie nicht nur über das triste Kleinstadteinerlei, sondern vor allem über sich selbst hinauswachsen.

Das unvermeidliche Unheil nimmt seinen Lauf, als Sheriff Krugsby (Bill Pullman) Dick die Resozialisierung eines jugendlichen Straftäters anvertraut. Für Sebastian (Danso Gordon) sind Schußwaffen Gegenstände des Alltagsgebrauchs und keine mythischen Kultobjekte, und das Etepetete-Gehabe der anderen gewinnt ihm zunächst nur ein müdes Lächeln ab. Schon bald entbrennt ein Machtkampf zwischen ihm und Dick, im Zuge dessen die Dandies gezwungen sind, ihre Prinzipien zu kompromittieren.

"Dear Wendy" endet im klassischen Kugelhagel zwischen Outlaws und Gesetzeshütern wie in Sam Peckinpahs "The Wild Bunch": zugleich blutiger und konventioneller, als die sich immer bedrohlicher zuspitzende Atmosphäre erwarten ließ. Letztlich - und hier mündet die Allegorie dann doch in Gesellschaftskritik - richten weniger die romantischen Todessehnsüchte der Dandies als vielmehr die Paranoia und Isolation der zeitgenössischen Lebenswelt das Blutbad an.

Der Schwur der Dandies: In ihrer Fantasiewelt wachsen die jungen Außenseiter über sich selbst hinaus

 

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