© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/05 14. Oktober 2005

Angela Merkel
Unterschätzt wie Helmut Kohl
Dieter Stein

Es gibt wohl kaum eine Zeitung, die die konservativen Defizite der von Angela Merkel geführten CDU derart kritisiert wie die JUNGE FREIHEIT. Und es wird noch viele Anlässe geben, die von der Großen Koalition eingegangenen Kompromisse zu attackieren, weil diese im Zweifel auf dem kleinsten gemeinsamen sozialdemokratischen Nenner herbeigeführt werden. So ist die ohnehin halbherzige Ablehnung der Union gegenüber einem EU-Beitritt der Türkei nun wohl hinfällig. Das gleiche gilt für Vorstöße in Richtung eines Steuersystems à la Kirchhof, das durchaus eine konservative Familienpolitik mit einschloß. Ganz zu schweigen von einer ohnehin von der Union nicht beabsichtigten Korrektur der verheerendsten gesellschaftspolitischen Weichenstellungen von Rot-Grün wie Homo-Ehe und geändertes Staatsbürgerrecht.

Es wird weiten Teilen der Unionsführung, die sich mental längst mit dem rot-grünen Zeitgeist arrangiert hat, nun leichtfallen, alle nur denkbaren Kompromisse mit der SPD zu finden, die man dann gegenüber der eigenen Klientel unter Vergießen von Krokodilstränen als Sachzwänge verkaufen wird.

Eins muß man aber anmerken: Wenn eines Angela Merkel bislang auszeichnet, dann dieses - daß sie selbst von professionellen Beobachtern des Politik- und Medienbetriebes maßlos unterschätzt worden ist. Man sollte all die Sätze rekapitulieren, die vor und nach dem Urnengang über sie gefallen sind. Man muß gar nicht an Gerhard Schröders Auftritt am Wahlabend denken, der sich großspurig dazu verstieg, niemals werde seine Partei mit der CDU über eine Koalition verhandeln, wenn die Kanzlerin Merkel hieße. Einer der am liebsten aus allen Himmelsrichtungen mit Kennermiene rezitierten Sätze lautet aber: "Sie kann es nicht!"

Sie kann es ganz offensichtlich doch. In einem unaufhaltsamen Marsch durch die Institutionen der Partei hat sich Angela Merkel ihren Weg an die Spitze gebahnt. Dieser Weg ist gepflastert mit Leuten, die in allen nur denkbaren Phasen müde lächelnd erklärt haben, sie könne es nicht. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie diese bornierte Verachtung diese Politikerin erst gestärkt hat, ihren Weg unbeirrt weiterzugehen - so sehr viele der von ihr vertretenen Positionen und Entscheidungen zu kritisieren sind.

Angela Merkel ist mit dieser Eigenschaft ihrem Ziehvater, Helmut Kohl, nicht unähnlich. Man erinnert sich noch an die Häme und den Spott, der über die "Walz aus der Pfalz", den "Dicken", die "Birne" ausgegossen wurden. Wie sehr meinte man sich über sein Äußeres lustig machen zu müssen! Auch bei Kohl hieß es stets: "Er kann es nicht." Welch ein Kontrast herrschte damals zwischen dem schneidigen Kanzler Helmut Schmidt und seinem unbeholfenen Herausforderer Kohl. Doch Kohl gewann. Und so oft er totgesagt wurde, so oft stand er auf - und regierte Deutschland 16 Jahre lang. 16 lange Jahre!

Die Bundeskanzlerin Merkel kommt. Man sollte skeptisch sein gegenüber Stimmen, die einem, nachdem sie gestern noch erklärten, daß "sie es nicht kann", nun einreden wollen, "natürlich" fliege die Große Koalition schon "übermorgen" wieder auseinander. Ich befürchte, sie wird länger Kanzlerin bleiben, als manche ahnen. Mit allen politischen Folgen.


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