© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/05 14. Oktober 2005

Alles erlischt im ewigen Weiß
Wintermärchen: In Luc Jacquets Dokumentarfilm "Die Reise der Pinguine" menschelt es gar sehr
Silke Lührmann

Pinguine, fast ahnte man es, sind die besseren Menschen. Erst im letzten Jahr entdeckten konservative US-amerikanische Christen dank Mel Gibsons "Passion Christi" ihre Leidenschaft fürs Kino. Nun finden sie in einem Dokumentarfilm über die drolligen Frackträger ebenjene traditionellen Werte, die sie in jenem sonst tunlichst gemiedenen Hort aller sieben Todsünden stets vermißten: Opferbereitschaft, Familiensinn, Monogamie, Verantwortungsgefühl.

In der Tat, schwerer als dieses "Volk der Verdammten" (Regisseur Luc Jacquet) hat Gott wohl nur Hiob auf die Probe gestellt. Alljährlich im antarktischen Herbst verlassen die Kaiserpinguine ihr natürliches Element und legen, teils behäbig watschelnd, teils auf ihren gut gepolsterten Bäuchen rutschend, mehr als hundert Kilometer übers Packeis zurück, um zu ihren Brutstätten zu gelangen. Dort erwarten sie mörderische Schneestürme, vierzig Minusgrade und monatelanger Hunger.

In dieser beschwerlichen Reise, die einzig und allein der Fortpflanzung dient, sehen interessierte Kreise nicht nur den Lebensschutz vorbildlich personi-, pardon: pinguinifiziert, sondern auch den Beweis, daß hinter solchen Wundern der Natur mehr steckt als das Darwinsche Zufallsprinzip, nämlich eine gestaltende Intelligenz. Weniger Fromme kontern im Internet mit Anekdoten über schwule Pinguin-Pärchen und dem Hinweis darauf, daß nur jede fünfte heterosexuelle Beziehung länger als eine Brutzeit hält.

Nicht zuletzt dem immer absurdere Züge annehmenden Kulturkampf dürfte zu verdanken sein, daß "Die Reise der Pinguine" in den USA mittlerweile mehr einspielte als seinerzeit Jean-Pierre Jeunets "Die fabelhafte Welt der Amelie" (2001) und somit zur erfolgreichsten französischen Produktion der Filmgeschichte wurde. Kirchen buchen ganze Kinos, veranstalten Leadership-Seminare im Anschluß an die Vorführungen und halten ihre Gemeindemitglieder an, die göttliche Botschaft mitzuschreiben.

Dem studierten Biologen Jacquet braucht man diese Vereinnahmung, gegen die er sich inzwischen in Le Monde ausdrücklich verwahrte, nicht anzulasten, sehr wohl aber eine ausgeprägte Tendenz zur Entwissenschaftlichung. Über die an den Polarkappen besonders augenfällige Erderwärmung wird kein Wort verloren, die mythische Qualität des heroischen Unterfangens um so eloquenter beschworen.

Die Begattung, die doch dessen Sinn und Zweck bildet, findet im toten Winkel der Kamera statt - gewiß weniger aus Rücksicht auf die Intimsphäre der Kaiserpinguine als auf eine weltweite Freigabe ohne Altersbeschränkung. Statt dessen ist euphemistisch vom "Tanz", ja der "Liebe" zwischen Männchen und Weibchen die Rede. Gewalt und Tod, die im prüden Amerika als weit weniger jugendgefährdend gelten, werden in lyrischen Bildern, elegischen Zeitlupen aufgehoben. Von Blut, Schleim, Exkrementen keine Spur - alles erlischt im ewigen Weiß.

Das ganz große Manko dieses visuell beeindruckenden Werkes ist die Vertonung: Die deutsche Synchronisation folgt dem Original, das den erwachsenen Pinguinen sphärisch-entrückte Zeilen in den Schnabel legt, als sprächen sie aus ferner Zeit zu uns - oder eben, wie Jacquet sagt, von der "Grenze zum Tod". Der zum Glück sparsam eingesetzte Gesang von Emilie Simon spinnt die Schneemassen zur Zuckerwatte. Jüngere Zuschauer kommen auf ihre Kosten, sobald die Küken geschlüpft sind und mit niedlicher Piepsstimme sprechen gelernt haben - geplagte Eltern dürften vom Kinderfernsehen schlimmeres gewöhnt sein.

Halb Disney, halb Doku, schien diese Fassung der Verleihfirma Warner Bro-thers aus unerfindlichen Gründen "zu französisch" für den US-Markt. In der amerikanischen Version gibt nun der Hollywood-Star Morgan Freeman mit allem gebotenen Pathos eine "Liebesgeschichte" des Martyriums von Lebewesen zum besten, die uns Menschen gar nicht so unähnlich seien.

Kaiserpinguine bauen keine Nester - woraus auch? -, sondern brüten ihre Jungen in einem einzigartigen Balanceakt auf den eigenen Füßen aus. Daß sich hierfür die Väter in die Pflicht nehmen lassen, mag tatsächlich in der einen oder anderen Menschenfrau den Wunsch wecken, wir wären den Pinguinen ein wenig ähnlicher ... Auch nach der Geburt wechseln sich beide Elternteile ab, das Küken in ihrer Bauchfalte warmzuhalten und aus dem fernen Meer Nahrung heranzuschaffen. Dank ihrer Torpedoform schwimmen sie dreimal so schnell wie jeder Olympia-Champion, zu Fuß aber schaffen sie gerade 500 Meter pro Stunde.

So wenig intelligent dieses Design dem Laien erscheint - ein Beutel, wie ihn Känguruhs haben, wäre doch viel praktischer -, so hervorragend eignet es sich zum Reality-Drama. Das Drehbuch schrieb die Natur, die Darsteller erweisen sich als vortrefflich gecastet, und Jacquets Kamerateam gelang eine großartige Umsetzung: Wir zittern buchstäblich mit, wenn eisige Windstöße die Pinguinkolonie schütteln, erleben ergriffen die Rückkehr des Lichts und bestürzt den Kindesraub eines um das eigene Junge trauernden Pechvogels an einer Gefährtin.

Andere Bilder bringen schier den Schnee zum Schmelzen: jenes etwa vom zärtlichen Miteinander der Kernfamilie im Triumph über alle Widrigkeiten, die himmlischer Schöpfer oder Evolution ihnen in den Weg stellten. Zu verraten, daß Mama wie Papa Pinguin in der nächsten Balzsaison mit neuen Tänzern anbandeln werden, verbietet sich da fast.

So spektakulär sich die Landschaft aus purem Winter auf der großen Leinwand ausnimmt ("noch nicht im Weltraum, aber irgendwie auch nicht mehr auf der Erde", sagt Jacquet): Wer die DVD abwartet, hat die Wahl, den Ton ganz auszuschalten, stimmungsvolle Musik aufzulegen, in Bildern zu schwelgen, den lieben Gott einen guten Mann - und die Pinguine Pinguine sein zu lassen.

Foto: Kaiserpinguine: Alljährlich watscheln die Wasservögel übers Packeis zu ihren Brutstätten, wo sie Hunger und mörderische Schneestürme erwarten


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