© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/05 14. Oktober 2005

Auslaufmodell
Zum Nachteil von Autoren und Lesern: In großen Medienkonzernen ist die Institution des Cheflektors nicht mehr gefragt
Andreas Wild

Richtig anrührend las sich kürzlich im Londoner Guardian der Nachruf von Blake Morrison auf "den" Cheflektor. Eventuellen Spaßvögeln blieb der Spott im Halse stecken. Es gibt ihn ja tatsächlich nicht mehr, den Cheflektor, nicht nur in England nicht. Und die Literatur leidet darunter, verzauselt und vergröbert sich.

Wird ein Verlag von einem der großen Medienkonzerne übernommen, ist es häufig zuerst der Cheflektor, den sie "freisetzen". Er wird nicht mehr gebraucht. In der großen Verwertungskette vom Originalmanuskript zum Fernsehmanuskript und zum product placement stört er nur. Sein Ruf nach Qualität und Gediegenheit weckt nur noch Lachreiz.

"Cheflektoren sind doch nur gescheiterte Schriftsteller", verkündete schon in den zwanziger Jahren der Medienmogul Randolph Hearst, und dieses geflügelte Wort wird seitdem immer wieder gern zitiert. Dabei hat damals kein geringerer als der Nobelpreisträger T.S. Eliot die passende Antwort gegeben. "Wer von uns Schriftstellern", fragte er Hearst, "ist denn nicht gescheitert?" Und er fügte hinzu: "Lieber ein Genie im Verlag als auf der Straße, ob nun gescheitert oder nicht."

Morrison schreibt in seinem Nachruf: "Mag sein, es gibt den destruktiven Lektor wirklich, der nur kaputtmacht. Doch die Cheflektoren, die ich kennengelernt habe, waren anders. Es waren liebende Erstleser und große Berater. Sie spornten an, richteten auf, trösteten. Es waren echte Freunde der Autoren."

Vorbei, vorbei. Heute sind Lektoren als freiberufliche Ich-AGs unterwegs, kriegen höchstens mal scharf begrenzte Zeitverträge und müssen ihrerseits scharf kalkulieren. Die Zeit, die sie einem einzigen Manuskript widmen können, ist knapp, knapper als knapp. Nicht nur der Autor, auch der interessierte Leser bekommt das zu spüren.


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