© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/05 14. Oktober 2005

Liebe Leser!
Dieter Stein

Wo liegt Ostdeutschland? Wie viele wissen auf diese Frage eine Antwort? Machen Sie einmal einen Test unter Bekannten. Sie erhalten erstaunliche Antworten. Im heutigen Sprachgebrauch der meisten Medien wird mit "Ostdeutschland" das einstige Gebiet der DDR erfaßt, die vor 15 Jahren, am 3. Oktober 1990, im Zuge der Wiedervereinigung untergegangen ist. Mancher, der als geschichtlich Kundiger Scham hat, Ostdeutschland zu sagen, wenn von alten mitteldeutschen Ländern wie Thüringen oder Sachsen die Rede ist, behilft sich mit "neue" oder "junge" Bundesländer. Die JUNGE FREIHEIT spricht nach wie vor bewußt von Mitteldeutschland, um die Länder zwischen Werra und Oder zu bezeichnen.

Denn Ostdeutschland steht für die Namen von Städten und Provinzen, bei deren Nennung uns eine traurige Sehnsucht ergreift: Breslau, Königsberg, Danzig, Stettin, Kolberg und Allenstein, Oppeln aber auch Thorn, Kattowitz, Bromberg oder Memel - es sind die historischen Provinzen Ost- und Westpreußen, Hinterpommern und Schlesien.

Vor sechzig Jahren begann die Auslöschung dieses Ostdeutschlands durch Vertreibung der dort seit Jahrhunderten ansässigen Bevölkerung, die in der Folge des verlorenen Krieges nach vorherigen Beschlüssen der Alliierten und lange gehegten Absichten der Vertreiberstaaten durchgesetzt werden konnte. Doch auch aus Landstrichen, die nicht unter "Ostdeutschland" zu subsumieren sind, nämlich aus Böhmen und Mähren, Ungarn oder Jugoslawien wurden die Deutschen vertrieben - teilweise nach entsetzlichem Leidensweg in völliger Rechtlosigkeit.

Es sind Geschehnisse, deren Andenken einen beschämend kleinen Raum in der "Erinnerungskultur" der Gegenwart erhält. Obwohl fast jede vierte Familie in Deutschland von diesem Schicksal betroffen war, schweigen die meisten heute und verdrängen die Wurzeln ihrer Ahnen. Ein unwürdiger Streit wird geführt um ein durch den Bund der Vertriebenen vorgeschlagenes Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin, das endlich einen angemessenen Ort des Gedenkens an dieses große Verbrechen schaffen soll.

Diese Zeitung hat den Höhepunkt der Vertreibung vor sechzig Jahren nun zum Anlaß genommen, die Zeitzeugen unter ihren Lesern einzuladen, ihre Erlebnisse zu schildern. Beinahe einhundert Einsendungen haben uns erreicht, aus denen wir die Beiträge dieser Sonderbeilage zusammengestellt haben. Wir danken allen Teilnehmern herzlich und bitten um Verständnis, daß wir nicht alle Texte berücksichtigen konnten.

Es gibt nur wenige aussagekräftige und schon sehr häufig gezeigte Fotos von den Vertreibungen. Wir haben uns deshalb entschieden, auf Fotos weitgehend zu verzichten und statt dessen auf die Darstellungen eines Malers zurückzugreifen, der zu den wenigen zählt, die sich des Themas auf künstlerische Weise angenommen haben.

Sämtliche Illustrationen dieser Sonderbeilage stammen von Helmut Hellmessen, der uns dankenswerterweise den Abdruck gestattet hat. Hellmessen (Fragebogen Seite 17) wurde 1924 in Karlsbad geboren und ist nach dem Kriegsdienst selbst Opfer der Vertreibung geworden. Er ist Träger des Sudetendeutschen Kulturpreises (1981) und Mitglied der Sudetendeutschen Akademie der Wissenschaften und Künste.


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