© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/05 14. Oktober 2005

Fremd in eigener Heimat
Ein Soldat befreit die Schwester aus Ostpreußen
Walter Derlau, Berlin

Ich diente als Soldat 1945 zuletzt in Ungarn. Dann habe ich mich nach Ende der Kämpfe über Österreich und Bayern bis nach Dresden durchgeschlagen, wo Schwestern und Brüder der Mutter wohnten und wo ich einen Treffpunkt meiner Familie vermutete. Doch auch sie hatten keine Nachricht von meinen Angehörigen aus Ostpreußen. So bin ich mit einem Mann, der bei Rössel in Ostpreußen wohnte und nach Hause wollte, bis Küstrin an der Oder gefahren. Mein Onkel riet mir zwar, im sicheren Dresden zu bleiben, aber die Sehnsucht in die Heimat war größer. Von Küstrin nach Ostpreußen schlichen wir uns auf die Beutegüterzüge mit großen Maschinen, die auf jedem größeren Bahnhof standen und östwärts rollten. Viele, die ähnliches versuchten, sind beschossen worden, denn Posten waren reichlich anwesend.

Schließlich gelangte ich ins ostpreußische Korschen. Mein Mitreisender stieg schon in Bischdorf auf einen Kohlengüterzug um. Ich ging durch Korschen und sah viele abgebrannte Gebäude. Da es auf der Straße zu gefährlich für mich war, schlich ich nachts auf Nebenwegen über Podlechen Richtung Annafeld. Der Bauernhof der Familie Sieg, den ich passierte, wurde bereits von Polen bewohnt. Bald konnte ich Annafeld sehen. Ich freute mich schon auf den ersehnten Empfang meiner Mutter. Doch unser Hof war bis auf das Wagenhaus und die drei Insthäuser, denen aber alle Türen und Fenster fehlten, komplett abgebrannt - keine Menschenseele war zu sehen.

Ich beschloß, noch einmal in unserem ausgebrannten Haus zu schlafen und holte mir ein Bund Stroh. Als ich fast eingeschlafen war, hörte ich plötzlich auf der Straße Geräusche und sah drei russische Panjefahrer auf unsere Behausung zukommen. Doch die Russen bemerkten mich nicht. Sie machten sich aus dem herumliegenden Holz ein Feuer und fuhren schließlich fort. Nach beinahe endlosem Schlaf bin ich noch einmal über den Hof, durch den Garten und die verwüsteten Insthäuser gegangen. Einzig bei Trojans stand noch ein kaputtes Büffet in der mit Pferdemist beschmutzten Stube.

Von unserem Hof machte ich mich vorsichtig in Richtung Schönfließ auf. Vor dem dortigen Friedhof war ein Roggenschlag, in dem ich zwei sich dort verbergende Menschen entdeckte. Ich pirschte mich langsam an sie heran und entdeckte den verängstigten Fleischbeschauer Koppenhagen mit seiner Frau. Sie schilderten mir, daß aus unserem Dorf viele in den zur Vertreibung von den Polen abgestellten Zügen zugrunde gegangen seien: Siebzig Personen mußten tagelang in einem offenen Güterwagen ohne irgendetwas zu essen auf den Abtransport warten. Bald schon habe man die Toten wie Holz aufstapeln müssen. Als der Zug endlich losfuhr, mußten sie zurückbleiben, um die Leichen zu begraben.

Auf meinem weiteren Weg entdeckte ich bei Skandau meine Schwester Gretel. Sie war mit anderen Frauen von den Russen zum Arbeitseinsatz auf einem Gut abkommandiert worden, die die Frauen dort auch bewachten. Neben dem Gut befand sich ein kleiner Wald und ein Heuschober, in dem ich mich ganze fünf Tage verbarg und die genaue Lage in Skandau beobachtete. Schließlich klopfte ich eines abends an das Fenster eines kleinen Nebengebäudes, in dem ich meine Schwester vermutete. Die beiden dort wohnenden alten Leute löschten daraufhin sofort das Licht aus. Ich rief: "Machen Sie doch bitte auf", worauf mir die erstaunte Antwort entgegenschall: "Ach, Sie sind ein Deutscher?" Die beiden Alten holten auf mein Bitten meine Schwester. Da Gretel sich bereits Mantel und Decke mitgenommen hatte, ermahnten sie die anderen deutschen Frauen, die scheinbar alle im Nebengebäude untergebracht waren, zum Wiederkommen, da sie sich sehr vor den Konsequenzen der sowjetischen Bewacher fürchteten, falls ihr Verschwinden bemerkt würde.

Die alten Leute gaben uns etwas Brot mit auf den Weg: "Was aus uns wird? Machen Sie sich keine Gedanken, die Hauptsache, Sie kommen durch!" So schlug ich mich mit Gretel bis nach Steindorfshof bei Rössel durch. Dort fand ich noch eine Tante, eine Stiefschwester vom Vater, auch den Mann, mit dem ich von Küstrin bis Ostpreußen gefahren bin. Auch er hatte seine Familie und seine Eltern gefunden, die noch in Rössel wohnten.

Bis zur Abreise mußten wir noch eine angstvolle Zeit durchleben. Doch nach einigen Tagen gelang es uns, allesamt in Güterzügen bis an die Oder bei Küstrin zu kommen. Von Ostpreußen bis dorthin brauchten wir allerdings drei Wochen. Anders als auf der Hintour mußten wir beiden Männer nun auch noch die Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln für mehrere Frauen und Kinder organisieren, was uns mehr schlecht als recht gelang.

In Küstrin trennten wir uns. Meine Schwester und ich schlugen uns bis ins mecklenburgische Güstrow durch, wo wir in einem Kuhstall längere Rast machen mußten, da Gretel schwer erkrankte. Ich erfuhr durch ständiges Erfragen anderer Flüchtlinge, die überall in den umliegenden Dörfern herum Asyl gefunden hatten, daß meine ältere Schwester in die Nähe Kamow geflüchtet war, wohin wir uns aufmachten, nachdem Gretel etwas zu Kräften gekommen war. Tatsächlich fanden wir sie in einer Ortschaft namens Puselin, wo wir insgesamt fast ein Jahr blieben bis Gretel wieder genesen war. Von Puselin machten wir uns nach Leipzig auf, wo Gretel schließlich bei einer Cousine Unterschlupf fand. Ich landete später in Sottewitz bei Meißen. Dort fand ich bei einem Bauern als Melker eine Anstellung. Bald darauf meldeten sich auch meine Eltern in Leipzig, wo wir erstmals seit unserem letzten Zusammentreffen in unserer ostpreußischen Heimat Wiedersehen feiern konnten.

Leider konnte ich nicht sehr lange meine Tätigkeit als Melker wahrnehmen, da man mich Anfang 1947 in den Wismutbergbau nach Oberschlema zwangsverpflichtete. Durch die mangelhafte Ernährung bei gleichzeitiger schwerer Arbeit - mittags gab es eine Kelle ganz dünne Möhrensuppe und ein dünnes Stückchen Brot, ganze 200 Gramm Brot für den übrigen Tag - klappte ich bald mit schweren Herz- und Lungenschäden zusammen. Erst nach mehreren Jahren bin ich als bergbauuntauglich bei der Wismut entlassen worden.

"Panik 1945", Öl auf Karton: "Was aus uns wird? Machen Sie sich keine Gedanken, die Hauptsache, Sie kommen durch!"


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