© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/05 14. Oktober 2005

Die Vertreibung der Deutschen / Schlesien

Erst am 20. Januar 1945 - als die sowjetischen Truppen nach nur zweiwöchigem Vormarsch bereits im Herzen Schlesiens standen - gab Gauleiter Karl Hanke den Befehl zur Evakuierung der Bevölkerung. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits zwei Drittel des Kreises Kreuzburg und die Hälfte des Kreises Rosenberg besetzt sowie fast die kompletten Kreise Guttentag und Lublinitz.

An eine geordnete Flucht war unter diesen Umständen kaum zu denken. Zudem hinderte große Kälte des Winters 1944/45 einen großen Teil der zur Flucht entschlossenen Bevölkerung an schnelleren Maßnahmen. Soweit die deutschen Truppen dazu in der Lage waren, taten diese ihr möglichstes, um die schlesische Zivilbevölkerung zu schützen. Im Regelfall konnte wegen der versperrten Wege die Flucht nur nach Süden und Südwesten in das Sudetenland angetreten werden.

Der Umfang der Fluchtbewegung läßt sich an dem enormen Bevölkerungsverlust in den Städten erkennen. So befanden sich zum Beispiel von den 37.859 Einwohnern der Stadt Neisse bei ihrer Einnahme durch sowjetische Truppen im März 1945 nur noch etwa 2.000 Personen in ihrem Heimatort.

Nach Kriegsende setzte zunächst ein Rückstrom von Flüchtlingen aus dem Sudetenland sowie aus Sachsen nach Schlesien ein. Die verbliebene bzw. mittlerweile zurückgekehrte deutsche Bevölkerung wurde im Oktober 1945 auf etwa 1,5 Millionen beziffert, wobei die größten Anteile auf Westober- und Niederschlesien entfielen. Eine Lebensgrundlage war jedoch in der alten Heimat kaum noch gegeben: Regelmäßig wurden Wohnungen und Häuser geplündert, den Deutschen Lebensmittelkarten verweigert. Die Auszahlung von Renten und Pensionen wurde eingestellt. Zugleich waren Zahlungen nur zu weit überhöhten Preisen in polnischen Zloty möglich, die nur wenige besaßen oder eintauschen konnten. Zudem waren die Deutschen ständig von einer Einweisung in Lager bedroht.

Seit Kriegsende kam es in Schlesien zu einer ständigen Zunahme von polnischen Siedlern; viele davon Vertriebene aus den polnischen Ostgebieten. Ihnen wurden nicht nur die Hinterlassenschaften von Geflohenen, sondern auch das Eigentum der verbliebenen deutschen Bevölkerung zugewiesen. Grundsätzlich berücksichtigten die neuen Machthabern seit September 1945 in Schlesien allerdings, daß die neue polnische Bevölkerung zahlenmäßig zunächst nicht in der Lage war, alle Deutschen in ausreichender Zahl zu "ersetzen". Daher erfolgte die Vertreibung der Deutschen nicht etwa wie in Böhmen und Mähren in komprimierter Form über wenige Monate, sondern Schritt für Schritt. Der Übergang des Landes und des Besitzes von deutscher in polnische Hand war den neuen politisch Verantwortlichen weitaus wichtiger. Den zurückgebliebenen Deutschen sollte so der Verbleib endgültig verleidet und sie zur eigenständig organisierten Flucht veranlaßt werden. So kamen viele deutsche Schlesier erst im Winter 1947 nach West- und Mitteldeutschland.

Frauen und Kinder tragen den Großteil der Lasten der Vertreibung


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