© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/05 14. Oktober 2005

Über das Haff
Tiefflieger gegen die Trecks
Herta Goronzi, Hannover

Bereits im Juli 1944 erreichte un ser Dorf im Memelland die Schreckensnachricht, daß die Russen bereits Wilna genommen hätten und wir in den Westen müßten, bevor die Luisenbrücke Richtung Süden über die Memel gesprengt würde. Wir beluden sofort zwei Ackerwagen mit dem Nötigsten und mein Vater machte alle Tiere los, damit sie nicht im Stall eingingen. Mit meinen Eltern, dem kleinen Bruder und meiner einjährigen Tochter und vier Pferden ging es dann nach Westen.

Russische Tiefflieger beschossen unseren Treck. Alle fuhren trotz des Beschusses weiter, ausscheren wäre auch gar nicht möglich gewesen, da die Straßen vollkommen überfüllt waren. Rechts und links lagen abgeworfene Gegenstände wie Koffer oder Bettwäsche, da den Pferden das Futter ausging und den geschwächten Tieren die Wagen so leicht wie möglich gemacht werden sollten. Nur noch Futter und das Allernötigste blieb auf den Wagen.

Immer wieder beschossen uns Tiefflieger. Links und rechts schlug es ein, die Pferde gingen hoch und die Menschen schrien. Man war wie in Trance. Ich erwartete den Tod jede Sekunde. Nach dem Angriff holte der Bürgermeister alle zusammen. Eine Familie mit fünf Kindern lief bereits zu Fuß. Wir gaben ein Pferd und einen Wagen an sie ab.

Schließlich erreichten wir Allenstein. Die Wehrmacht konnte die Sowjets noch einmal zurückdrängen. Diese guten Nachrichten von der Front gaben Anlaß zu Hoffnung, daß die Russen in Ostpreußen aufgehalten werden könnten. So beschlossen wir, in Allenstein in einer Ziegelei zu überwintern. Doch die Hoffnung trog. Im Januar 1945 mußten wir weiter, mein Vater wurde noch einberufen und wir mußten ohne ihn anspannen.

Wir vesuchten, über das zugefrorene Frische Haff Richtung Danzig zu kommen, da die Rote Armee Ostpreußen bereits abgeschnitten hatte. Nachts erreichten wir das Haff. Zur linken brannte Frauenburg schon lichterloh und erhellte die Nacht. Auf dem Eis lagen gefallene Soldaten. Mein kleiner Bruder lief von einem zum anderen, da er den Vater darunter vermutete.

Im Morgengrauen kamen russische Tiefflieger. Sie flogen den Treck der Länge nach entlang und warfen Sprengbomben, so daß das Eis brach. Von hinten hörten wir die Pferde schreien, noch heute höre ich sie im Traum. Die ersten Wagen begannen einzusinken, rückwärts rissen sie die Menschen und die Pferde mit in das Wasser und versanken. Immer näher kamen die Flieger. Plötzlich bemerkten wir eine Markierung auf dem Eis, so daß wir aus der eingefahrenen Wagenspur abbiegen konnten und somit aus der Schußbahn kamen. So gelang uns als einem der letzten Wagen in dieser Nacht die Überquerung des Haffs bis auf die rettende Nehrung.

In der Nähe von Danzig war unsere Flucht vorerst zu Ende, da die Rote Armee uns den Landweg nach Westen abgeschnitten hatte. Wir fanden Unterschlupf bei einem polnischen Bauern. Für uns vorläufige Rettung und der Beginn einer neuen Odyssee.


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