© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/05 14. Oktober 2005

Umherirrend
Ohne Ziel in Deutschland
Sigrid Lehmann, Würzburg

Der gellende Schrei meiner Mut ter durchdrang die frühe Stille eines Maimorgens im Jahr 1945. Vor ihr stand ein Mann mit vorgehaltenem Gewehr und schrie Befehle auf tschechisch. Meine Mutter verstand ihn, denn sie war Tschechin, durch die Ehe mit meinem Vater aber Deutsche geworden.

Dann ging alles ganz schnell. Die Mutter bepackte eilig einen alten Kinderwagen mit allem Notwendigen und schon reihten wir (die elfjährige Eva, der achtjährige Wolfgang und ich mit fünf Jahren) uns in den Menschenstrom ein, der in Richtung Reichenberger Bahnhof marschierte. Am Bahnhof drängten sich die Menschen vor den Viehwaggons. Kinderwagen und Federbetten wurden an den Puffern der Lokomotive festgezurrt.

Meine Mutter verhandelte mit einem tschechischen Soldaten: Sie wollte noch einmal ins nächste Dorf, um sich von ihren Eltern zu verabschieden. Später berichtete sie uns von der Drohung der Tschechen, falls sie nicht binnen zweier Stunden zurück wäre, würden sie uns drei Kinder erschießen. Bald war sie wieder da. Man stopfte uns in die überfüllten Viehwagen, wo wir eng gedrängt auf unseren Bündeln kauerten. Der Zug hatte sich schon in Bewegung gesetzt, als sich tschechische Soldaten durch die Menschenmenge zwängten, um Geld und Wertsachen "einzusammeln". Ein Koffer war ihnen im Weg, den sie nach hinten warfen. Er soll ein Kind tödlich getroffen haben. Meine Mutter sagte etwas auf tschechisch, worauf ihr ein Soldat ins Gesicht schlug. Viele Menschen warfen schließlich Schmuck und Uhren durch die Luftschlitze ins Freie.

Irgendwo hielt später der Zug. Die Waggons spuckten Hunderte von Menschen aus, die sich in alle Richtungenzerstreuten. Nun begann unsere vierwöchige Wanderschaft. Der Weg führte uns jeden Tag in ein anderes Dorf. Erst zum Bürgermeister, der uns dann bei Bauern unterbrachte, wo meine Mutter das Abendessen für uns vier erarbeiten mußte. Endlich nach vier Wochen stießen wir auf einen Dorfbürgermeister in Sachsen, der uns eine Kate zuwies. Nach einem Jahr in der ländlichen Idylle wurden wir plötzlich bei Nacht und Nebel in einem Schweinetransporter in eine kleine Stadt nach Unterfranken gebracht. Dort wurden wir mit meinem Vater, den es nach kurzer Kriegsgefangenschaft dorthin verschlagen hatte, durch das Rote Kreuz zusammengeführt.


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