© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/05 21. Oktober 2005

Die Wahrheit ist die Tochter der Zeit
Bundeswehr: Vom Leutnant der Wehrmacht zum Viersternegeneral der westdeutschen Streitkräfte / General Günter Kießling feiert 80. Geburtstag
Ortwin Buchbender

Eine der zentralen Fragen großer Literatur ist nicht nur, was der Sinn des Lebens sei, sondern vor allem die Frage, wie es mit dem Glück des Menschen bestellt ist. Friedrich Schiller hat in einer seiner bekanntesten Balladen "Der Ring des Polykrates" dieses Problem in eindrucksvoller Weise behandelt. Das tragische Scheitern des Helden, der glaubt, sein Glück gefunden zu haben und gerade deshalb dem Neid der Götter verfällt, ist weiterhin ein zeitloses Thema von besonderer Aktualität. Diese Ballade gehört zu den Lieblingsballaden von General a.D. Günter Kießling. Auch er ist zweifellos ein Glückskind, was seinen steilen Werdegang betrifft. Er durchlief eine brillante militärische Laufbahn, wenn man sich den bemerkenswerten Werdegang vom Unteroffiziersvorschüler im Jahre 1940 bis zum höchsten militärischen Rang, den die Bundeswehr zu vergeben hat, in Erinnerung ruft. Die Stationen dieses Soldatenlebens sind in der Tat ungewöhnlich.

Vom Bauhilfsarbeiter zum Offizier

Am 20. Oktober 1925 in Frankfurt an der Oder geboren, erlebt der Jubilar 1945 als Leutnant der Wehrmacht das Kriegsende. Im Nebenberuf als Bauhilfsarbeiter macht er 1947 das Abitur als Externer, beginnt ein Studium der Wirtschaftswissenschaften, das er erfolgreich mit Diplom und Promotion beendet. 1954 erfolgt sein Eintritt in den Bundesgrenzschutz und zwei Jahre später in die Bundeswehr.

Nach der Generalstabsausbildung an der Führungsakademie in Hamburg und am britischen Army Staff College Camberley folgen Truppenverwendungen als Bataillonskommandeur (1967), Brigadekommandeur (1970). Mit 45 Jahren wird Kießling einer der jüngsten Generale der Bundeswehr. Nach seiner Verwendung als Divisionskommandeur einer Panzerdivision, der Funktion als Stellvertretender Abteilungsleiter Personal im Bundesministerium der Verteidigung, des Befehlshabers der Alliierten Landstreitkräfte "Jutland" wird er 1982 zum Viersternegeneral befördert und übernimmt den Posten des Stellvertreters des Obersten Befehlshabers in Europa.

Dieser rasante Aufsteiger, dem es mit Sicherheit nicht an Neidern fehlte, wurde zum Prototyp des gebildeten Soldaten und des Außenseiters. Unter den damals 215 Generälen der Bundeswehr war Kießling der einzige Junggeselle, was im neidischen Umfeld sicher nicht unbemerkt blieb. Die zentrale Aussage in der zitierten Ballade von Schiller "Des Lebens unvermischte Freude ward keinem Sterblichen zuteil", sollte sich auch bei General Kießling bewahrheiten und mit der Wucht eines Erdbebens auf ihn einbrechen. Im September 1983 trifft den General völlig unvorbereitet der Vorwurf des damaligen Ministers Manfred Wörner, er sei homosexuell.

Über den Verlauf einer nun beginnenden Affäre, die eine Inkubationszeit von drei Monaten benötigte, um zu einem Skandal zu eskalieren, der die Medien und die Öffentlichkeit auf einen emotionalen Siedepunkt brachte und einen Untersuchungsausschuß erzwang, ist umfassend berichtet worden.

Kritische Analyse und Aufarbeitung blieb aus

Im Gegensatz zu Polykrates, der durch die Götter vernichtet wurde, setzt sich bei General Kießling die Wahrheit durch, und die Affäre findet für den Betroffenen ein glückliches Ende.

Für Kießling selbst ist nach seinen eigenen Aussagen die Frage, wer letztlich die dilettantische Intrige gegen ihn mit dem damit verbundenen Skandal zu verantworten hat, von sekundärer Bedeutung. Nicht nur für ihn, sondern für alle, die sich mit diesem skandalösen Fall kritisch aus der zeitlichen Distanz auseinandersetzen, lautet die entscheidende Frage, wie das kaum nachzuvollziehende Versagen der politischen und militärischen Führung mit ihren gravierenden Defiziten im charakterlichen und professionellen Bereich zu erklären ist.

Die in diesem Zusammenhang immer wieder zitierte Krise des Generaloberst Freiherr von Fritsch, der 1938 ebenfalls unter dem Verdacht der Homosexualität von Hitler abgelöst worden war, ist im kriminellen Umfeld einer Diktatur zu beurteilen. Im Unterschied dazu ereignete sich die "Wörner-Kießling-Affäre" in einem Rechtsstaat, dessen Streitkräfte den Grundsätzen der Inneren Führung verpflichtet sind, auf die die Bundeswehr bei ihrem jetzigen Jubiläum zu Recht mit Stolz blicken kann. Zum damaligen Zeitpunkt waren ihre Grundsätze in der Zentralen Dienstvorschrift 10/1 und dem Handbuch Innere Führung aufgelistet. Die Auffassung, daß diese Grundsätze sozusagen ein mentales Serum gegen gravierende Führungsschwächen enthielten und zu einer spürbaren Charakterstärkung der Betroffenen führen würden, hält sich immer noch mit erstaunlicher Hartnäckigkeit. Vor allem im Ausland wird kritisch vermerkt, daß das mit dem Fall Kießling festzustellende Versagen insbesondere der militärischen Führung bisher nicht sorgfältig analysiert und entsprechend aufgearbeitet worden sei, um entsprechende Lehren aus fatalem Fehlverhalten für die Zukunft ziehen zu können.

Die Rolle des Superagenten Krase

Der Behauptung, der Fall werde bis heute in der Bundeswehr, vor allem von den Verantwortlichen der Inneren Führung tabuisiert, kann zur Zeit nicht widersprochen werden. Ob die Innere Führung sich diesem für sie herausfordernden Thema in Zukunft stellen wird, bleibt abzuwarten.

Ein weiteres Tabuthema im Kontext dieser Affäre ist der Fall des Superagenten Oberst Hans-Joachim Krase. Als Stellvertretender Amtschef des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) und Leiter der Gegenspionage war er zweifellos einer der erfolgreichsten Stasi-Agenten. Der Schaden, den Oberst Krase in den vielen Jahren seiner Tätigkeit angerichtet hat, ist bisher kaum einzuschätzen. Im Fall Kießling hat er durch eine raffinierte Falschmeldung über angebliche Erkenntnisse eines Landeskriminalamtes (JF 3/04) wesentlich zur Auslösung des Skandals beigetragen. Für den MAD war Krase eine Großkatastrophe. Krase starb 1988 und wurde erst 1990 enttarnt.

"Doch wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch!", so Hölderlin. Das Rettende bei dieser Affäre ist die Erkenntnis, daß auch in diesem Fall der Rechtsstaat seine Bewährungsprobe beeindruckend bestanden hat. Und diese Gewißheit wird sicher den Jubilar mit dem versöhnen, was er in der wohl schwersten Phase seines Soldatenlebens erleiden mußte.

Foto: General Kießling, 1984 bei seiner Verabschiedung mit Wörner und bei einem Fernsehauftritt (2003): Stationen eines Soldatenlebens

 

Ortwin Buchbender ist Militärhistoriker und hat zahlreiche Publikationen zu militärhistorischen und sicherheitspolitischen Themen veröffentlicht. Er hat unter anderem den Band "Günter Kießling - Staatsbürger und General", (Frankfurt am Main 2000) herausgegeben.


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