© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/05 21. Oktober 2005

Der Boston-Alabama-Vergleich
Jens Biskys Fazit nach fünfzehn Jahren deutscher Einheit ist ernüchtend / Die Deutschen müßten sich in zwei Gesellschaften zurechtfinden
Marcus Schmidt

Die Deutschen werden mit ihrer staatlichen Einheit nicht glücklich. Ebenso regelmäßig, wie jedes Jahr am 3. Oktober bemüht ungezwungene Einheitsfeiern in der für die Bundesrepublik typischen tristen Staatschoreographie abgehalten werden, erheben sich die Stimmen derjenigen, die den Bemühungen, die durch die Teilung gerissenen Wunden zu heilen, ein schlechtes Zeugnis ausstellen. Zu runden Jubiläen wird daraus mitunter sogar ein Buch - wie jenes von Jens Bisky, das der Journalist der Süddeutschen Zeitung rechtzeitig zum 15. Jahrestag der Wiedervereinigung vorgelegt hat.

Wie schon manch ein Kritiker vor ihm stellt Bisky das Scheitern des seit 1990 unternommenen Versuches fest, aus zwei Staaten, zwei Wirtschaftssystemen, zwei Gesellschaften wieder ein Volk und ein Gemeinwesen zu fügen. Doch der Autor geht noch einen Schritt weiter: Nicht nur der Weg, der 1989/90 zum Erreichen der wirtschaftlichen und "inneren" Einheit eingeschlagen worden ist, sondern das Ziel an sich sei verfehlt. Dabei plädiert Bisky, Sohn des Linkspartei-Vorsitzenden Lothar Bisky, keineswegs für eine erneute Teilung Deutschlands. Er verwirft allerdings das Vorhaben, das auf stetigen Wirtschaftswachstum beruhende (Erfolgs-)System der alten Bundesrepublik auf Mitteldeutschland übertragen zu wollen - so wie es seit fünfzehn Jahren unter dem Schlagwort "Aufbau Ost" versucht werde. Die auf diesem Wege angestrebte Einheit überfordere und gefährde "unser Land", so der Untertitel seines Buches "Die deutsche Frage".

Bisky betrachtet bei seiner Bilanz der vergangenen fünfzehn deutschen Jahre den Aufbau Ost nicht isoliert, sondern stellt ihn in den Zusammenhang mit dem von Politik und Medien vielfach beschworenen deutschen Niedergang - dem Abstieg der Bundesrepublik Deutschland vom allseits bewunderten Wirtschaftswunderstaat zum kranken Mann Europas.

Er hat viele Zahlen zusammengetragen, um seine These vom Scheitern zu belegen. Die bislang geflossenen 1.250 Milliarden Euro Bruttotransfergelder hätten lediglich den Kollaps der östlichen Bundesländer verhindert und ein "komfortables Elend" in herrlichen Kulissen herbeigeführt, lautet Biskys zugespitztes Fazit. Die angestrebte Reindustrialisierung Mitteldeutschlands sei ausgeblieben - und wird nach Ansicht des Autors auch in der Zukunft nicht mehr zu erreichen sein. Nicht der illusorisch gewordene wirtschaftliche Aufholprozeß, sondern die Verhinderung einer Abwärtsspirale, der Ausbruch aus dem "Teufelskreis Ost", müsse im Mittelpunkt des "Aufbau Ost" stehen. Denn die Zukunftsaussichten "des Ostens" beurteilt Bisky düster. Er sagt einen Kollaps voraus, wenn die Transferzahlungen in den kommenden Jahren wie geplant schrittweise verringert werden.

Das von Bisky konstatierte Scheitern der Wiedervereinigung betrifft sowohl die wirtschaftliche als auch die kulturelle Ebene. Eine gesamtdeutsche Gesellschaft habe sich - außer in einigen Universitäten und Berliner Stadtteilen - bislang nicht herausgebildet. Statt dessen sei in den neunziger Jahren in den östlichen Bundesländern eine "stille Gesellschaft" entstanden, die eine "Kultur der Abgrenzung" pflege. Es sei ein Fehler gewesen, daß der Osten vom Westen nicht als qualitativ verschiedene Gesellschaft, sondern als unterentwickelter Westen behandelt worden sei. Gegenüber dem politischen System der Bundesrepublik nehme der "Durchschnitts-Ostdeutsche" lediglich eine Beobachterstellung ein.

Den Weg aus der Krise sieht Bisky im Abschied Deutschlands vom alten Geist der Bundesrepublik. Der Hauptfehler der Politik sei, das habe der vergangene Wahlkampf erneut gezeigt, auf Wachstum zu hoffen und vom Staat irrtümlich zu erwarten, dieser könne Arbeitsplätze schaffen. Der Staat müsse sich vielmehr auf das konzentrieren, was er mit seinem begrenzten Mitteln leisten könne. Er müsse garantieren, daß seine Institutionen ihre Aufgaben erfüllten: etwa daß die Schulen für vernünftige Bildung sorgen und der Sozialstaat vor Elend schützt.

Die provokanten Thesen Biskys machen schmerzlich das Dilemma der 1989/90 eingeleiteten und in der Tat längst noch nicht vollendeten Wiedervereinigung deutlich: Dem gesamten Vorhaben fehlte von Anbeginn der übergeordnete nationale Gedanke, der als Klammer hätte dienen können. Zwischen den Zeilen wird dies auch bei Bisky deutlich, etwa wenn er eine neue Gründungsidee für den gesamtdeutschen Staat einfordert und bemängelt, es fehle ein Symbol des gemeinsamen Neubeginns.

Im Umgang miteinander rät der Enddreißiger den Deutschen zu mehr Gelassenheit: Man müsse akzeptieren, daß zwei deutsche Gesellschaften in einem Staat existierten. Seine Einschätzung, daß die "innere Einheit" Deutschlands auf absehbare Zeit illusorisch ist, mag eine schmerzhafte Erkenntnis sein. Ebenso die These, daß sich die Unterschiede derart verfestigen könnten wie in den Vereinigten Staaten, wo heute noch die kulturellen Unterschiede zwischen den Nord- und Südstaaten, zwischen "Boston und Alabama" deutlich spürbar sind. Bisky hat in seinem Buch genügend Beobachtungen zusammentragen, die diese Einschätzung realistisch erscheinen lassen.

Foto: Einsamer thüringischer Arbeiter in der neuen Produktionsanlage Kahla inmitten Tausender süßer Weichkekse: Komfortables Elend in herrlichen Kulissen

Jens Bisky: Die deutsche Frage. Warum die Einheit unser Land gefährdet. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2005, 222 Seiten, broschiert, 12,90 Euro


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen