© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/05 21. Oktober 2005

Europa in Brand stecken
Viele Akteure wirkten an der Eskalation zwischen 1940 und 1941 mit / Stefan Scheils dritter Band zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs
Dag Krienen

Die etablierte Geschichtsforschung beschreibt die Außenpolitik des nationalsozialistischen Deutschlands im allgemeinen mit Hilfe relativ simpler, volkspädagogisch brauchbarer Paradigmen. Sie postuliert eine ideologisch oder auch systemstrukturell bedingte, nahezu grenzenlose Aggressionsbereitschaft des NS-Regimes und erklärt diese zur wichtigsten Ursache sowohl für den Kriegsausbruch 1939 als auch für die stetige Ausweitung zum Weltkrieg bis 1941. Auch der deutsche Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 wird dabei vornehmlich als Folge ideologischer Obsessionen oder eines Hitlerschen "Stufenplans" zur Weltherrschaft gedeutet.

Das Unternehmen "Barbarossa" wäre demzufolge ein "gänzlich" einseitig motivierter reiner Aggressionsakt gewesen. Was aber, wenn stimmt, was der Historiker Stefan Scheil in seinem jüngsten Buch behauptet? "Was zwischen 1940 und 1941 stattfand, läßt sich als rivalisierende Machtpolitik um die Hegemonie in Europa vollständig erklären. Hitlers ideologische Vorstellungen, oder allgemeiner gesprochen, die nationalsozialistische Ideologie kann aus der Vorgeschichte des Unternehmens Barbarossa komplett weggedacht werden, ohne daß an der diplomatischen Vorgeschichte und den militärischen, wirtschaftlichen Zwängen, die sich in ihr spiegeln, etwas wesentliches unberücksichtigt bliebe."

Tatsächlich ergibt sich ein völlig neues Bild, wenn man davon ausgeht, daß vor allem eine kalte und strenge "politische" Machtlogik die Eskalation des Krieges vorantrieb. Hitler, Stalin, Churchill und Roosevelt können allesamt als Außenpolitiker beschrieben werden, die sich jederzeit ihre Optionen offenzuhalten versuchten und zu allen als notwendig erachteten Grausamkeiten bereit waren. Auch dazu, die Brandfackeln des Krieges überall dort anzulegen, wo es ihnen zum Zwecke der Erhaltung und Erweiterung der uneingeschränkten souveränen Machtstellung des eigenen Landes geboten erschien. Die europäische Politik dieser Zeit war ein "Haifischbecken", in dem viele Räuber schwammen, und kein "Karpfenteich, in dem sich (nur) ein einziger Hecht herumgetrieben" hätte.

Bereits in seinen beiden vorangehenden Werken zur Vorgeschichte und zur ersten Phase des Zweiten Weltkrieges in Europa (Die Logik der Mächte, 1999; Fünf plus Zwei, 2003) hat Scheil dieses Deutungsmuster entwickelt. Dabei erscheint Hitler nicht so sehr als Gestalter, sondern eher als Getriebener der machtpolitischen Entwicklung, die eine von ihm allein nicht zu beherrschende Dynamik besaß. Denn das Vielfronten-Land Deutschland saß sowohl geopolitisch als auch ökonomisch von Anfang an am kürzeren Hebel. Daran änderten auch die militärischen Erfolge in Polen, Skandinavien und Westeuropa bis Mitte 1940 nicht viel. Das Reich blieb eingesperrt in einem globalen Kleinraum ohne militärischen oder ökonomischen Zugriff auf die "Futterkrippen" der Welt.

Das war allen Beteiligten klar. Zwischen 1939 und 1941 waren es deshalb nicht zufällig die Deutschen, die sich wiederholt bemühten, durch relativ großzügige Friedensangebote die weitere Eskalation des Krieges zu vermeiden, ohne dabei auf ein positives Echo zu stoßen. Umgekehrt hielt Großbritannien auch nach dem Verlust seines Bündnispartners Frankreich an seiner Strategie einer Wirtschafts- und Hungerblockade nun nicht mehr nur gegen Deutschland, sondern gegen ganz Kontinentaleuropa fest.

Seit dem Frühjahr 1940 setzte Churchill beharrlich auf einen bedingungslosen "Endsieg" und damit eine Ausweitung des Krieges, um die Deutschen an immer mehr Fronten zur Abnutzung ihrer Kräfte zu zwingen. Seine Weisung vom Juli 1940, den "europäischen Kontinent in Brand zu stecken", bezog sich zwar unmittelbar nur auf die Entfesselung eines schmutzigen Krieges von Partisanen und Kommandoeinheiten. Aber sie bezeichnet auch treffend seine Strategie, möglichst viele Staaten in einen Krieg mit Deutschland zu verwickeln. Die Flügelmächte USA und UdSSR ließen sich darauf im Bewußtsein ihrer jeweils sowohl den Deutschen als auch den Briten strukturell überlegenen Macht nur allzu gern ein.

Scheil beschreibt detailliert die Entwicklung der politisch-strategischen Lage der beteiligten Mächte und die daraus resultierenden Entschlüsse, die allesamt auf eine stetige Eskalation des 1939 begonnenen Krieges hinausliefen. Auch das Deutsche Reich mußte dieses Spiel mitspielen, nachdem es ihm im Sommer 1940 nicht gelungen war, Großbritannien zum Friedensschluß zu bewegen. Dem Verfasser gelingt es, Hitlers grundlegende Entschlüsse im Hinblick auf die Sowjetunion bis hin zur Entscheidung zum Angriff auf dieses Land "restlos" aus den Forderungen eines Machtkalküls plausibel zu machen. Angesichts der ungeheuren Opfer und Verwüstungen des "Ostfeldzuges" mag man solchen Machiavellismus im nachhinein für zynisch erachten.

Trotz der großen militärischen Erfolge bis 1941 schrumpfte die Zahl der strategischen Optionen des Deutschen Reiches unaufhaltsam zusammen. Um den Krieg angesichts der britischen Eskalationsstrategie doch noch zu einem erträglichen Ende bringen zu können, mußte es ständig den Einsatz erhöhen - oder kapitulieren. Zu letzterem hätte sich zu jener Zeit wohl kaum eine Reichsregierung, welcher Zusammensetzung auch immer, durchringen können. Damit blieb im Sommer 1941 nur noch die Alternative "Weltmacht oder Untergang" - was für einen Angriff auf die zunehmend bedrohliche Sowjetunion sprach.

Viele seiner Argumente sind schon von anderen Autoren vorgetragen worden. Aber Scheil führt die methodische Abtrennung der Geschichte der Außenpolitik des Deutschen Reiches von der Ideologie- und Verbrechensgeschichte des NS-Regimes mit bislang ungekannter Schärfe durch. Und er kann zeigen, daß dieses Vorgehen zu in sich schlüssigen Ergebnissen führt.

Dies läßt auch über einige Schwächen in der Darstellung hinwegsehen. Diese folgt beispielsweise den Ereignissen nicht in chronologischer Folge, sondern leuchtet einzelne Themenfelder scheinwerferartig aus. Vor allem Lesern, die mit der Materie wenig vertraut ist, wird es manchmal schwerfallen, die hintergründigen und gelegentlich auch etwas sprunghaften Argumentationsgänge des Autors nachzuvollziehen. Zudem verzettelt sich Scheil zuviel auf historiographischen Nebenkriegsschauplätzen, die für seine zentrale Argumentationslinie nicht von Bedeutung sind. Unnötig ist beispielsweise sein Eingehen auf die Frage, ob Barbarossa als Präventivkrieg bezeichnet werden kann. Mag sein, daß die Rote Armee im Sommer 1941 ihrerseits zum Angriff bereitstand. Wer aber wie Scheil davon ausgeht, daß die deutsche Seite die konkreten Angriffsabsichten der Sowjets nicht erkannte, sondern ihre Entscheidung zum Krieg aufgrund der negativen Entwicklung der politisch-strategischen Lage fällte, kann von einem Präventivkrieg nur noch in einem sehr weiten Sinne sprechen. Wer sich dennoch auf diese Begriffsklaubereien einläßt, begibt sich unnötig auf eine Argumentationsebene, auf der die berufenen Wächter der political correctness einem gerne jedes Wort im Munde umdrehen.

Solche kleinen Einwände ändern nichts daran, daß es Scheil erneut gelungen ist zu zeigen, daß der Zweite Weltkrieg "in die Reihe der Hegemonialkämpfe des europäischen Kontinents, quasi als dessen moderne Version" eingeordnet werden kann. Die Besiegten von 1945 wären demzufolge in erster Linie tatsächlich einfach nur die Verlierer der letzten Runde der periodisch wiederkehrenden Kriege um die Hegemonie in Europa - mehr "Sinn" ergibt sich aus einer solchen geschichtlichen Betrachtung der Ära der großen Zerstörungen nicht. Dieses zu ertragen, ist die eigentliche Herausforderung.

Foto: Churchill mit den Exilpolitikern Wladyslaw Sikorski und Charles de Gaulle bei einer Truppeninspektion (1941): Bedingungsloser Endsieg

Stefan Scheil: 1940/41. Die Eskalation des Zweiten Weltkriegs. Olzog Verlag, München, 2005, 528 Seiten, gebunden, 34 Euro


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