© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/05 28. Oktober 2005

Huren nach Eleusis
Pornographie und Coca-Cola: Tod und Vermächtnis des italienischen Regisseurs Pier Paolo Pasolini
Martin Lichtmesz

Nicht nur der Sex, auch der Tod hatte für den italienischen Dichter und Regisseur Pier Paolo Pasolini (1922-1975) eine geradezu religiöse Bedeutung. Jahre vor seiner Ermordung am Strand von Ostia vertraute er einem Journalisten an: "Was meinen Hang zum Sakralen, Mythischen und Epischen angeht, bin ich überzeugt, daß er nur durch den Akt des Todes völlig befriedigt werden kann."

Sein gewaltsames Ende in den Morgenstunden des 2. November 1975 trug schicksalhafte Züge. Wie bei Yukio Mishima schienen Leben und Werk, Eros und Thanatos eins zu werden, als sich der Todesengel in Gestalt eines schönen Jünglings näherte. Der 17jährige "Pino" Pelosi, der seinen Freier niedergeschlagen und mit dessen Sportwagen überfahren haben soll, war einer jener ragazzi di vita aus den Armenvierteln von Rom, deren "gewaltsames Leben" Pasolini in seinen frühen Romanen verherrlicht hatte. Ungereimtheiten in der Darstellung Pelosis ließen bald den bis heute ungeklärten Verdacht aufkommen, er wäre nur Lockvogel und Sündenbock eines faschistischen Mordkomplotts, sein Opfer ein politischer Märtyrer gewesen.

Die Spekulationen wucherten, als Pasolinis letzter und radikalster Film "Salò oder die 120 Tage von Sodom" kurz darauf seine postume Premiere hatte. Der skandalumwitterte Regisseur, der bereits Inzest, Homosexualität und Kannibalismus auf die Leinwand gebracht hatte, ging diesmal weiter als je zuvor. Er transponierte ein Romanfragment de Sades in die spätfaschistische "Republik von Salò" und gestaltete den Stoff zu einer diffusen politisch-pornographischen Parabel. Vier namenlose "Herren", die einander mit "Exzellenz", "Hochwürden" und "Präsident" ansprechen, sich mit moderner Kunst umgeben und Benn, Nietzsche und Klossowski zitieren, lassen in der Untergangsstimmung der letzten Kriegsjahre mit Hilfe faschistischer Milizen je acht Mädchen und Jungen in eine Villa entführen, um sie systematisch zu schänden, zu foltern und schließlich zu ermorden.

Stets war er auf der Jagd nach dem "wahren Leben"

"Salòs" depressive Orgie setzte unter Pasolinis Werk einen Schlußpunkt. Fort waren die Wärme und Vitalität früherer Filme, der tiefe Pessimismus, den der Film ausstrahlte, ließ einen insgeheimen Todeswunsch des Regisseurs ebenso plausibel erscheinen wie die Vermutung, der 53jährige hätte ein Autodafé in eigener Sache inszeniert. Pelosis Verteidiger führten den Film als schlagenden Beweis für Pasolinis moralische Korruption vor. Reich und berühmt durchstreifte er in seinem Alfa-Romeo Nacht für Nacht den Schwulenstrich Roms, im krassem Widerspruch zu seinem Engagement für die Armen und Ausgebeuteten. Hatte der sensible Künstler seine Nachtseite offenbart, hatte er Ähnlichkeit mit den grausamen Libertins seines Films?

"Salò" und die vorangehenden "Freibeuterschriften" waren Kritik und Endstation einer lebenslangen Suche nach widerstandsfähigen Ressourcen gegen die progressive "Entartung" durch die Konsumgesellschaft. Dabei setzte Pasolini auch und vor allem auf die elementare Kraft des Sex, die in seinem eigenen Leben eine zentrale Rolle spielte. Den sexualpolitischen Strategien der kulturrevolutionären Linken von 1968, die er heftig attackierte, stand er allerdings denkbar fern. Wie sein frühes Idol Rimbaud war er stets auf der Jagd nach dem "wahren Leben", als dessen Paradigma ihm die archaische, geschichtslose, "sakrale" Welt des Bauerntums erschien, wie er es in seiner Kindheit in Friaul kennengelernt hatte. Er glaubte später, diese Essenz in der Volkskultur Neapels, im Subproletariat der römischen Vorstadt, zuletzt in der "Dritten Welt" wiederzufinden, und sah sie stets bedroht von der Überschwemmung durch den westlichen Konsumismus.

Als primären Vorantreiber dieser "anthropologischen Mutation" nannte er die "Bourgeoisie", die er zu einer nahezu mythischen Macht der Zerstörung stilisierte. Die "Rechte", das war für ihn vor allem das Bürgertum, der Konformismus, der "Jedermannismus". Bezeichnend, daß seine frühe Parteinahme aus Verbundenheit zu kommunistischen friaulischen Bauern erfolgte, denen er sich instinktiv anschloß, ohne eine Zeile Marx gelesen zu haben. Hinter dem Fetzen Hoffnung der roten Fahne (die KPI schloß ihn schon früh aus und blieb stets auf Distanz zu dem unbequemen Außenseiter) verbarg sich ein pantheistisch fühlender Archaiker, der von sich in einem berühmten Gedicht sagte: "Ich bin eine Kraft aus der Vergangenheit, allein der Tradition gilt meine Liebe".

Als Filmautor debütierte Pasolini mit dem postneoveristischen "Accattone" (1961). Seit Ende der sechziger Jahre wandte er sich zunehmend gegenwartsfernen, klassischen Stoffen zu. "Edipo Re" (1967) und "Medea" (1969) zeigten eine barbarische, aber sakrale Welt als Gegenpol zur rationalisierten "Zivilisation". In der "Trilogie des Lebens" (1970/73) bildeten derbe, tragikomische und vor allem erotische Episoden nach Chaucer, Boccaccio und Tausendundeiner Nacht die Antithese zu der verhaßten Gegenwart. Diese Filme waren inspiriert von Pasolinis "Nostalgie für ein ideales Volk mit seinem Elend, seinem mangelnden politischen Bewußtsein". Er sprach von einem "Völkermord" an den Italienern und beklagte deren Umwandlung in eine unterschiedslose "bürgerliche" Masse von Konsumenten durch die Zerstörung der lokalen Traditionen. Das dadurch entstandene "Vakuum" fülle sich nun mit einer "Ideologie des Konsums" und einer "daraus folgernden modernistischen Toleranz amerikanischer Machart". Pasolinis "hedonistischer Faschismus", der "nichts mehr mit seinem traditionellen Vorläufer zu tun" hat, war nichts anderes als der nach dem Krieg hereingebrochene Liberalismus. Trotz seiner mißverständlichen Fixierung auf das kommunistische Kampfvokabular sah er deutlich, daß die alten Feindbilder passé waren. Das moderne Italien war eben nicht mehr "klerikal-faschistisch", sondern "konsumistisch und permissiv". Links- wie Rechtsextreme teilten im Grunde die "Werte" dieses zunehmend totalitären Systems - und waren darum unfähig, es zu bekämpfen.

Auch der Sex war nun vom Liberalismus infiziert

Antiliberale im "rechten" Lager kamen indes zu beinahe identischen Ergebnissen. Der in Italien lebende ehemalige Mussolini-Bewunderer Ezra Pound, den Pasolini schätzte und fürs Fernsehen interviewte, sah die Dinge kaum anders. Pounds Fluch auf "Usura", den Wucherer, den perversen Frevler "contra naturam", der nicht nur "das Brot trocken wie Papier macht" und "metzt das Kind im Mutterleib", wird kaum Pasolinis Aufmerksamkeit entgangen sein. Zeilen wie "Man brachte Huren nach Eleusis hin/ Und setzte Leichen zum Gelag/ Auf Geheiß von Usura" nehmen deutlich Motive aus "Salò" vorweg.

Verblüffende Parallelen zu Pasolinis "Freibeuterschriften" finden sich auch in Deutschland in Armin Mohlers luzidem Essay "Sex und Politik" (1972). Mohler zitierte Jean Cau: "Pornographen aller Länder, ich sage euch: wenn ihr im Menschen bloß das Tier weckt, ist Auschwitz nicht mehr fern ... Das Fleisch, das ihr in euren Revuen und Magazinen anbietet, ist gerade gut genug, verkauft, verachtet, gefoltert, getötet und verbrannt zu werden."

Pasolini erkannte, daß er sich wider Willen an der Ausbreitung der von ihm als destruktiv identifizierten "Permissivität" beteiligt hatte. Jahrzehnte vor Michel Houellebecq beschrieb er die "Ausweitung der Kampfzone": "Die Sexualität ist heute die Befriedigung einer gesellschaftlichen Pflicht, nicht eine Lust gegen die gesellschaftliche Pflicht." Die permissive Korrumpierbarkeit war universell. Nun waren selbst die ragazzi di vita zu "Kollaborateuren" geworden. Sogar Pasolinis "unschuldiger" puer eternus Ninetto Davoli taucht in Form eines faschistischen Doppelgängers in "Salò" wieder auf. Die "Degeneration der Körper und der Geschlechter" hatte auch die einst vergötterte subproletarische Jugend eingeholt, ihre Widerstandskraft sich als illusorisch erwiesen.

Pasolini selbst nahm sich von der Kritik nicht aus. Er sprach vom "Trauma der falschen Toleranz", das er erlitten habe; was in den "sexuellen Phantasien Leid und Freude war, ist selbstmörderische Enttäuschung, formlose Unlust geworden". Auch der Sex, das äußerste Ressort des "anderen Lebens", war nun vom Feind infiziert. Pasolinis letzte Eisscholle schmolz weg, er war reif für den Totentanz.

Die grelle Faschismus-Metapher von "Salò" hat die primären Intentionen dieses faszinierend mißglückten Films unkenntlich werden lassen. So widmete ihm Klaus Theweleit in seinem Buch "Deutschlandfilme" (2003) eine groteske, antifaschistische Ressentiments bedienende Interpretationsorgie. Theweleit scheint das Genre der Ilse-Koch-Pornographie, das im Italien der siebziger Jahre florierte, derart ernst zu nehmen, daß man den Eindruck gewinnt, er glaube wirklich, Pasolini habe "den einzigen Dokumentarfilm (!) von KZ-Praktiken, den es bis heute gibt" gedreht. Doch worin besteht der Wert eines "antifaschistischen" Films, der den Faschismus Jahrzehnte nach seinem Untergang mit fiktiven Greueln denunziert?

Eine Linke, die sich auf den "Faschismus" als Feindbild Nummer eins fixiert, ist ebenso harmlos, wie es heute eine "antikommunistische" Rechte wäre. Ihre "Hitlerkomplexe" (Gottfried Dietze) machen sie zum "Kollaborateur" des Liberalismus und blind für seine Verheerungen. Dazu zählt auch die merkantile Vernutzung von Menschenmaterial durch die Pornoindustrie, die via Video und Internet beispiellose Ausmaße angenommen hat.

Der totalitäre Markt saugt noch die radikalste Kritik auf

Produktionen selbst mit realen Vergewaltigungen und Folterungen entstehen - aller Strafbarkeit zum Trotz - am Fließband. "Anything goes" ist nicht nur die Maxime der "Herren" aus Pasolinis Film und der millionenschweren Pornoproduzenten, sondern auch in passiver Form, bewußt oder unbewußt, breiter Schichten der Gesellschaft, deren Widerstandskraft durch die "falsche Toleranz" nachhaltig geschwächt ist.

Pasolinis Bestreben, einen widerständigen, unkonsumierbaren Film zu schaffen, scheiterte. Trotz der spröden Stilisierung wurde "Salò" zum Renner am Videomarkt. Die Kapazität des totalitären Marktes, die Widerstandskräfte aufzusaugen, wie es Naomi Klein beschrieben hat, erscheint unbegrenzt. Am Ende seines Lebens hätte der vom Christentum faszinierte Marxist Pasolini der Prophezeiung Nicolás Gómez Dávilas resigniert zugestimmt: "Marx und die Evangelien werden verblassen. Die Zukunft gehört der Pornographie und Coca-Cola."

Foto: Pasolini bei Dreharbeiten zu "Salò oder die 120 Tage von Sodom" (1975): Sein Bestreben, einen unkonsumierbaren Film zu schaffen, scheiterte

Pier Paolo Pasolini: Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft. Neu herausgegeben von Peter Kammerer, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1998, kart., 174 Seiten, 9,90 Euro


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