© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/05 28. Oktober 2005

Der Statthalter des Staatsfeindes Nummer eins
Der französische Terrorismusexperte Jean-Charles Brisard setzt sich anhand der Biographie von Abu Musab el-Sarkawi mit den islamistischen Netzwerken auseinander
Hans-Jürgen Hofrath

Abu Musab el-Sarkawi - ein Name, der mittlererweile als Synonym für auf Video zur Schau gestellte Brutalität steht. Hinter diesem Phantom verbirgt sich der - nach Osama bin Laden - weltweit meistgesuchte Terrorist, dessen makabre Bedeutung als "Staatsfeind Nummer eins" in einer seitens der USA für seine Ergreifung ausgesetzten Belohnung von 25 Millionen US-Dollar augenscheinlich wird. Mit dem Jordanier werden exemplarisch die Anschläge von Casablanca und Madrid sowie viele ebenso medienwirksam wie sadistisch vor laufender Kamera festgehaltene Hinrichtungen gefangener Geiseln wie Nicholas Berg und Kenneth Bigley assoziiert. Deren visuelle und auf psychologische Kriegführung hin ausgerichtete Schockwirkung hat dem islamistischen Terror eine neue Dimension verliehen. Selbst prinzipiellen Befürwortern einer islamischen Grundsatzkritik am westlich-exzessiven Kultur-, Sitten- und Religionsverfall steht das Entsetzen im Gesicht.

Dem Entwicklungsgang dieses als überaus charismatisch geltenden Mannes biographisch nachzuspüren, hat sich der französische Terrorismusexperte Jean-Charles Brisard in dem vorliegenden Werk zur Aufgabe gemacht. Dabei verfolgt er die Spur des auf seine globale Ausrichtung stolzen Top-Terroristen von Jordanien über Pakistan, Afghanistan (zu Zeiten sowjetischer Okkupation) und Syrien, Deutschland, sodann wieder Afghanistan (Trainingslager in Herat) bis wieder in den Irak. Dabei ist der aus einer palästinensischen Flüchtlingsfamilie stammende Sarkawi in jungen Jahren eher als Raufbold denn als islamischer Fundamentalideologe in Erscheinung getreten, der dann später auch als Berichterstatter für eine islamische Zeitschrift tätig wurde.

Ein besonderes Verdienst gebührt dem vorliegenden Werk auch deshalb, weil es zur allgemeinen Transparentmachung der terroristischen Strategie maßgeblich beiträgt: So erweist sich primär das Unterfangen als aufschlußreich, durch die im Anhang beigefügten Inhalte von Verhörprotokollen und Originaldokumenten in die Gedankenquellen und Motivationsgründe der islamischen Dschihadisten einzudringen. Hier ist auch facettenreich entfaltet, wie bedeutsam die rechtzeitige Unterbindung der Installierung demokratischer Verhältnisse im Irak sei, bevor es hierzu zu spät sei. Denn die seiner Ideologie zugrunde liegende Metaphysik gipfelt in der Annahme, die Besetzung des Irak sei nichts anderes als der erste Akt der Errichtung eines bis zum Zweistromland reichenden Groß-Israel - dies in Erwartung einer Wiederkunft des Messias. Womit der beiderseits der Konfliktlinie dominante manichäische Kontext des "Heiligen Krieges" (des "Kampfes der Kulturen") überdeutlich wird - und unwillkürlich die Assoziation zu einer apokalyptischen Prophezeiung des Nostradamus weckt.

Was in vielen Ohren vielleicht gar zu pathetisch klingen mag, hat gleichwohl gewisse reale Hintergründe. Tun sich doch extrem gefährliche Qualitäten des als Spezialist für chemische und biologische Kampfstoffe geltenden Sarkawi auf, wenn man angeblich von ihm geplante Mega-Attentate beleuchtet, welche an potentiellen Opfern den 11. September weit in den Schatten gestellt hätten. Zudem sollen chemische Anschläge in Europa vorbereitet worden sein.

Eine Mixtur aus derartigem apokalyptischem Dezisionismus und persönlicher Leiderfahrung mag maßgeblich konstitutiv für das von grausam-brutaler Entschlossenheit geprägte Psychogramm des palästinensischen Jordaniers gewesen sein. Aus Sarkawis Denkkosmos resultiert zwangsläufig eine emphatische Glorifizierung des für alle wahrhaft gläubigen Moslems notfalls obligatorischen Märtyrertodes. Hier wird im übrigen ein auf Todesverachtung beruhender Geist evident, wie man ihn historisch höchstens von Indianern oder japanischen Kamikaze-Fliegern her kennt.

Sarkawis Islamistengruppe Al-Tawhid wa-l-Dschihad ("Einheit und Dschihad") hat sich unterdessen ideologisch und militärisch dem Kommando Osama bin Ladens untergeordnet. Sarkawi sieht sich folglich nach Erkenntnissen des Autors nunmehr als Statthalter von al-Qaida im Irak (und möglichen Nachfolger Bin Ladens). Neben den Juden und den Christen gelten in Sarkawis Augen die Schiiten infolge ihrer US-Kollaboration als atheistische Verräter und - nach salafistischer Lehre - als "vom Glauben abgefallene Häretiker". Sie sind der gerechten göttlichen Strafe verfallen.

Von Belang für die Dimension des Konfliktrahmens ist sicherlich die Feststellung, daß Sarkawi ein quasi pan-islamistisches Projekt apostrophiert, wobei sich eine "Arbeitsteilung" manifestiert in der logistischen Nachschubbasis Syrien, Finanzmitteln saudischer "Wohlfahrtsorganisationen" sowie jemenitischen Selbstmordattentätern und Kämpfern aus mindestens sechzehn islamischen Staaten.

Neueren, auf Angaben hoher US-Militärkreise beruhenden Gerüchten zufolge soll der in seinem Heimatstaat Jordanien in Abwesenheit zum Tode verurteilte und zwischenzeitlich verletzte Sarkawi am Horn von Afrika Unterschlupf gesucht haben. Aber wirklich beigekommen ist dem Phänomen Sarkawi, dem sich auch Brisard lediglich angenähert hat, bis zur Stunde noch niemand.

Jean-Charles Brisard: Das neue Gesicht der Al-Qaida. Sarkawi und die Eskalation der Gewalt. Propyläen Verlag, 400 Seiten, gebunden, 22 Euro


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