© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/05 28. Oktober 2005

Radlertraum(a): Nachruf auf die Urgeschichte des Bergrades
Von Kiffern zu Kantenklatschern
Erol Stern

Zugegeben, es waren nicht nur kopfgesteuerte Erwägungen, die mich im Herbst 1988 veranlaßten, mein filigranes Rennrad mit einem dieser grobstollig-barbarischen Bergräder aufs Schändlichste zu betrügen. Doch ich war nicht allein - Hunderttausende anderer Radfahrer waren der befestigten Straßen und schönen neuen Radwege überdrüssig. Ein Jahr später gab uns auch die Geschichte recht, als die Maueröffnung unsere teuren Anschaffungen durch schlechte Straßen legitimierte. Heute, Ironie des Schicksals, sind es wohl eher die morbiden Berliner Radwege als die neuen Straßen im Umland, die nach stabilem Material verlangen.

Geburtsstunde mit Ballonreifen aus Deutschland

Angefangen hatte der Hype am Mount Tamalpais in Marin County (Kalifornien). Im Winter 1973 taten es die passionierten Radrennfahrer Gary Fisher und Joe Breeze mit ihren Freunden Charles Kelly und Tom Ritchey den bekifften Hippies der Gegend gleich und orgelten mit den seinerzeit rund 40 Jahre alten Zweirad-Oldtimern der Marke Schwinn die Feuerwehrwege des Mount Tam herunter. Die antiquierten Bikes waren gerade bei Zeitungsjungen populär und verfügten über stabile Stahlrahmen sowie dicke Ballonreifen, die der US-Fahrradproduzent Ignatz Schwinn 1932 aus Deutschland mitgebracht hatte und um die herum er das komfortable Modell "Cruiser" entwickelte. Angelehnt an die Formen zeitgenössischer Motorräder erhielt es geschwungene Rohre und ist heute als "Beach Cruiser" beliebtes Lifestylevelo.

Bald entwickelte sich der gesellige Zeitvertreib zum örtlichen Breitensport, erste Rennen wurden ausgetragen. Doch dank dieser Repack-Rennen, die ihren Namen dem Umstand verdankten, daß das Fett aus den heißgelaufenen Rücktrittbremsen lief, so daß diese regelmäßig neu geschmiert (repack) werden mußten, stellte sich schon bald ein Notstand an Ersatzteilen ein. 1977 schließlich beauftragte Kelly seinen Freund Breeze mit der Anfertigung eines maßgeschneiderten Rahmens, dem ersten "richtigen" Mountainbike-Rah-men. Nun zog auch Fisher nach, bestellte bei Ritchey eine Serie, die reißenden Absatz fand, und gründete den ersten professionellen Vertrieb.

In den frühen 1980ern wurden die robusten Drahtesel in den USA und Kanada zum Massenphänomen. Zwischen Mitte und Ende des Jahrzehnts schwappte die gewaltige Welle nach Europa, wo viele - dem BMX-Rad Entwachsene - die neue Perspektive begierig aufgriffen.

Ihren kulturellen und ästhetischen Zenith erreichte die Szene nach eingängiger Meinung älterer Fans Anfang der neunziger Jahre. In dieser Zeit perfektionierten poppig-bunte und sündhaft teure Kultmarken und Tuninganbieter das Genre. Feinste Stahl- und Titanrohre standen hoch im Kurs, regelrechte Glaubenskriege um die richtige Rahmengeometrie wurden entfacht (nach einhelliger Expertenmeinung vom legendären Fat Chance "Yo Eddy" klar für sich entschieden). Dennoch standen das Selbstverständnis und das flippige Lebensgefühl der Biker, den Surfern ähnlich, im Vordergrund, mit einer bis heute erstaunlich großen Fangemeinde. Leider konnten sich schillernde Kultschmieden wie etwa Yeti, Merlin oder Syncros nicht lange halten und fielen dem Pleitegeier oder der Übernahme durch "Heuschrecken" - Branchenriesen wie Univega, Giant, Merida, Trek - zum Opfer.

Etwa zeitgleich mit dem Übergang zur "seelenlosen" Massenfertigung durch Roboter in Fernost und dem Aufkommen von Federungssystemen wandte man sich bei der Herstellung vom Rahmenmaterial Stahl dem - nicht nur ökologisch problematischen - Werkstoff Aluminium zu, bei Stahlfreaks als Bauxit-Bomber verpönt.

Zunehmend werden Spitzenmodelle auch aus Carbon produziert, was nicht immer zugunsten der Sicherheit geschieht. Die Profis der Tour de France setzen daher wohlweislich auf Titanrahmen, den Sponsoren zuliebe in Carbon-Optik. Heutige Bikes lassen bei eingefleischten Liebhabern der Materie im wesentlichen zwei Dinge vermissen: Immateriell ist es die Detailverliebtheit und das "Zen" menschlicher Rahmenbaukunst. Optisch ist es die Eleganz, geopfert einer Angleichung an das Motorrad - also inflationäre, oft unsinnige Federwege und martialische Ofenrohre dieser "Kantenklatscher".

US-Räder künftig "made in Germany"

Selbst alteingesessene deutsche Tra-ditionsmarken setzen inzwischen auf die drei taiwanesischen und chinesischen Zulieferer, die 90 Prozent der Weltproduktion beherrschen. Ein echtes "Made in Germany" wird immer seltener. Um so erstaunlicher wirkt die Nachricht, daß die US-Firma Trek (Haus- und Hoflieferant von George W. Bush und Lance Armstrong) seit kurzem auch in Deutschland bei Diamant schweißen läßt, was jedoch auch an den 48,5 Prozent Strafzoll für China-Importe liegt.

Angesichts der Debatte um den Standort Deutschland zunächst positiv zu werten, trübt diese Meldung allerdings auch der fade Beigeschmack, den Trek durch die Übernahme ehemaliger Prestigemanufakturen (Klein, Bontra-ger, Gary Fisher) hinterlassen hat. Zwar baut auch Pionier Joe Breeze keine Mountainbikes mehr, jedoch konzipiert er neuartige Cityräder und leistet wichtige Lobbyarbeit für eine ökologische, ökonomische und gesunde Verkehrspolitik und den Bau von Radwegen in seinem autoaffinen Heimatland USA. Und das dürfte das eigentlich Wichtige am Radfahren sein.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen