© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/05 04. November 2005

Kolumne
Das Prinzip Hoffnung
Heinrich Lummer

Der Zustand der Berliner CDU ist miserabel. Die Partei erlebt derzeit einen ähnlich tiefen Einbruch, wie wir ihn schon einmal 1963 hatten, als die CDU von 37,7 auf 28,8 Prozent ihrer Wählerstimmen absackte. Das stand in Zusammenhang mit einem geplanten Besuch des Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt bei Chruschtschow, dem die CDU als damaliger Koalitionspartner der SPD erbitterten Widerstand entgegensetzte. In den folgenden Jahren der Opposition kam es zu einem Generationswechsel im Landes- und Fraktionsvorstand der Union, der ohne ärgerliche Querelen vonstatten ging. 1969 wurde Peter Lorenz Landesvorsitzender, ich übernahm den Fraktionsvorsitz; beide waren wir damals unumstritten.

Auch der nächste Generationswechsel - zu Diepgen und Landowsky - vollzog sich relativ reibungslos. Es folgten erfolgreiche Jahre - bis die Kiste in den Sand gesetzt wurde. Das fing an mit jener sprichwörtlich gewordenen Arroganz der Macht, die Diepgen wie auch Landowsky glauben ließ, alles sei machbar. Dabei wartete die SPD nur auf eine passende Gelegenheit, um die Große Koalition zu verlassen. Heute ist mit dem Namen Landowsky vor allem die Berliner Bankenkrise verbunden und der Niedergang der CDU ebenfalls. Mögen die Prozesse auch mit Freisprüchen enden, der Schaden ist eingetreten.

Als Bundeskanzler Kohl Anfang der 1980er Jahre Richard von Weizsäcker überredete, nach Berlin zu gehen, gelang ihm ein großer Coup. Damals stand die Berliner CDU kurz vor der Regierungsübernahme. Doch wer will heute noch nach Berlin kommen? Christoph Stölzl schmiß nach nur einem Jahr das Handtuch, seine Nachfolger sind als Führungsfiguren nicht der Rede wert, und der immer wieder als Spitzenkandidat gehandelte Klaus Töpfer scheint wenig geneigt, dem Ruf in die Hauptstadt zu folgen. Nun soll zum Jahresende hin Besserung eintreten. Allein mir fehlt der Glaube.

Der erstreckt sich nicht allein auf den personellen Aspekt, sondern vor allem auch auf den inhaltlichen. Gerade jetzt käme es auf eine Wertediskussion an, die sich auf drei Bereiche fokussieren müßte: kulturelle Emotionalisierung zu Fragen wie Nation, Christentum und Islam, Europa und Türkei-Beitritt sowie zur deutschen Leitkultur. Zweitens: Familie, und drittens: Solidarität und soziale Gerechtigkeit.

Doch von alldem ist wenig oder gar nicht die Rede. Statt dessen macht man sich in der Berliner CDU Gedanken über das "Delegierten- oder Mitgliederprinzip". Bleibt wohl nur das Prinzip Hoffnung.

 

Heinrich Lummer, 73, Bürgermeister von Berlin und Innensenator a.D., war bis 1998 Bundestagsabgeordneter der CDU.


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