© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/05 04. November 2005

Bürgerkrieg nach Stromschlag
Frankreich: Die jugendliche Gewalt ist in bestimmten Vorstädten inzwischen Alltag geworden / Innenminister Sarkozy verspricht erneut "Null-Toleranz"
Jean-Marie Dumont

Am Donnerstag, den 27. Oktober überklettern gegen 19 Uhr drei aus Einwandererfamilien stammende Jugendliche, die von einem Fußballspiel zurückkommen, eine drei Meter hohe Mauer. Sie flüchten in ein dahinter stehendes Transformatorhäuschen, um angeblich einer Polizei-Kontrolle zu entgehen. Ziad (17) und Banou (15) sterben an einem Stromschlag, der dritte Junge wird schwer verletzt. Kurz darauf versammeln sich spontan mehrere Jugendliche und greifen die zu Hilfe gekommenen Feuerwehrleute mit Steinen an.

Einige Stunden später sind es laut Polizeiangaben etwa 200, die ein Feuerwehrzentrum, eine Schule, Buswartehäuschen, eine Post, ein Rathaus und ein Einkaufszentrum mit Steinen attackieren. Sie stecken dabei 23 Autos in Brand. Etwa 3.000 Polizisten müssen bis spät in der Nacht aktiv bleiben, um in dem nordöstlichen Pariser Vorort Clichy-sous-Bois für Ruhe zu sorgen.

In den folgenden Nächten kommt es zu weiteren und noch stärkeren Ausschreitungen. Allein in der Nacht vom Freitag zum Samstag seien 65 Polizeiwagen in Brand gesteckt worden, teilte das Pariser Polizeipräsidium mit. Die Polizei-Gewerkschaft CFTC forderte sogar den Innenminister auf, die Armee um Hilfe zu bitten.

"Ein Bürgerkrieg ist in Clichy-sous-Bois ausgebrochen", so CFTC-Generalsekretär Michel Thooris, "einzelne Schütze schießen in Richtung der Polizei". Erst am Sonntag um 23.30 Uhr ist die Ordnung wiederhergestellt. Die "Kämpfer" haben sich zerstreut. Die Lage bleibt dennoch unsicher. Jugendliche hätten sich als Vermittler angeboten, um "eine Versöhnlichkeit wieder herbeizuführen", so die Kommunikationsbeauftragte der Stadt Clichy.

Solche Ereignisse sind in Frankreich kein Einzelfall mehr. Es gibt Banlieues der Großstädte, in die die Polizei de facto nicht gehen kann. In Clichy selbst gibt es Orte, die nahezu unzugänglich für die Polizei sind - unter anderem die fast geschlossenen Flächen, die sich zwischen den Wohnblocks befinden. Die Unsicherheit herrscht in Vororten von Großstädten wie Lyon oder Bordeaux, aber auch in den Banlieues kleinerer Städte wie Villefontaine (Departement Isère) oder Méru (Oise).

In manchen Banlieues ist das Inbrandstecken von Autos inzwischen zu einem "Ritual" geworden. In den Brennpunktvierteln der Pariser Vororte Seine Saint Denis oder Val de Marne, aber auch selbst in der Europastadt Straßburg werden jedes Jahr in der Silvesternacht Dutzende von Autos angezündet - 2005 waren es offiziell 333. Zwei Tage vor den Ausschreitungen in Clichy hat der französische Innenminister Nicolas Sarkozy in der Tageszeitung Le Monde erklärt, in diesem Jahr seien bereits 9.000 Polizeiwagen zerstört worden. Jede Nacht würden in Frankreich 20 bis 40 Autos in Brand gesteckt.

Wer sind diese "Jugendlichen", die angeblich aus Integrationsschwierigkeiten antifranzösische oder zumindest antistaatliche Ressentiments hegen? Die Frage ist schwer zu beantworten. Clichy ist eine stark multikulturell geprägte Stadt, mit Familien aus dem Maghreb, der Türkei, aus Afrika, die besonders arm sind. Die Bevölkerung ist sehr jung - 38,6 Prozent sind unter 20. Die Arbeitslosenquote liegt bei 23,5 Prozent.

Aber die Fakten sind komplizierter als die offiziellen Daten. Gut integrierte Einwandererfamilien gibt es nämlich auch. Am Samstagmorgen - einige Stunden nach den schwersten Unruhen - fand in Clichy ein friedlicher Marsch zum Gedenken an die beiden verunglückten Jugendlichen statt, an dem vierhundert Personen teilnahmen. Während der nächtlichen Unruhen trugen einige Autos Nummernschilder aus anderen Städten und Departements. Das legt die Vermutung nahe, daß es sich um eine überregional organisierte Gang handeln könnte, also um mehr als ein einfaches "Ghettophänomen". "Personen, die nicht aus Clichy-sous-bois sind, haben offensichtlich einen Vorwand gefunden, um Gewalttaten zu begehen", erklärte der Bürgermeister von Clichy, Claude Dilain.

Die französische Regierung hat indes sofort reagiert. Innenminister Nicolas Sarkozy gratulierte der Polizei zu ihrer "hervorragenden Arbeit" und predigte erneut "Null-Toleranz". Drei der am Freitag verhafteten Jugendlichen wurden schon zu acht Monaten Gefängnis (darunter sechs mit Bewährung) verurteilt. Eine Verstärkung der rechtlichen und technischen Mittel wurde versprochen. Schon einige Tage vor den Ausschreitungen in Clichy hatte Sarkozy, der gleichzeitig Chef der bürgerlichen Regierungspartei UMP ist, den Entwurf eines neuen Sicherheitsgesetzes vorgestellt, das die Verstärkung der Video-Überwachung vorsieht. Zudem hat Sarkozy die Stationierung von 17 Bereitschaftspolizeikompanien in besonders schwierigen Vororten angekündigt.

Sie sollten in kleinen Gruppen zum Einsatz kommen, anstatt die Sicherheit von friedlichen Demonstrationen verärgerter Lehrer abzusichern. Alle Polizeistreifen werden künftig mit Videokameras ausgerüstet. Nach den Clichy-Ereignissen hat der UMP-Chef am Sonntag im Sender TF1 seine Ankündigungen präzisiert. Er versprach, nun werde er jede Woche einen "schwierigen" Vorort besuchen. Die Regierung werde jeden Monat Statistiken zu den städtischen Gewalten veröffentlichen.

Er bestätigte die schon angekündigte zahlenmäßige Verstärkung der Polizisten, damit diejenigen, "die mit Hämmern werfen und scharf schießen" neutralisiert werden, so Sarkozy, der 2007 eventuell für das Amt des Staatspräsidenten kandidieren will. Diese Maßnahmen und Äußerungen des UMP-Chefs haben allerdings nicht ungeteilten Beifall gefunden. Der ehemalige Regierungschef Laurent Fabius von den Sozialisten (PS) hat Sarkozy vorgeworfen, ein "furchtbares Klima in den Banlieues" zu schaffen. Besonders umstritten ist die ungeschminkte Ausdrucksweise des Innenministers, der die Straftäter als "Racailles" (Gesindel) bezeichnet hatte. Im Juni hatte Sarkozy nach dem Tode eines in der Pariser Vorstadt La Courneuve erschossenen Kindes davon gesprochen, die Banlieue von La Courneuve zu "säubern".

Diese Äußerungen seien eine Art "Wildern auf dem Boden der Rechtsextremisten", meinte der Mitbegründer des Neuen Sozialistischen Partei (NPS) Arnaud Montebourg. Andere sprechen von Populismus. Um solche Kritik zu entkräften, hat Sarkozy nach den Clichy-Ereignissen daran erinnert, man dürfe sich nicht täuschen: "Nicht die Ganoven, sondern die Polizisten wurden angegriffen".

Foto: Gewaltexzesse im Pariser Vorort Clichy: 38,6 Prozent der Bewohner sind unter 20, die dortige Arbeitslosenquote liegt bei 23,5 Prozent


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