© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/05 04. November 2005

Pankraz,
Johannes Climacus und das große Verwirrspiel

I m Vorlauf zu den Kierkegaard-Gedenkfeiern nächste Woche (hundertfünfzigster Todestag) wurde jetzt in Berlin vom dänischen Botschafter und vom Walter de Gruyter Verlag der erste Band einer monumentalen Kierkegaard-Gesamtausgabe in deutscher Sprache präsentiert. Der Botschafter wollte das ausdrücklich als "Dank an Deutschland" verstanden wissen, denn dieses habe dem großartigen Schriftsteller und "Schöpfer des Existentialismus" Sören Kierkegaard einstmals zum Durchbruch verholfen, international und auch in Kierkegaards dänischer Heimat selbst.

Der Fall ist in der Tat einzigartig. Kierkegaard hatte sich kurz vor seinem Tod in Dänemark durch seine scharfen, ja überscharfen Angriffe auf die protestantische Amtskirche und ihre Repräsentanten quasi unmöglich gemacht, niemand wollte mehr etwas von ihm wissen. Da machte sich ein deutscher Gymnasialprofessor, Hermann Gottsched, nach Kopenhagen auf den Weg, um die Schriften des Philosophen editoriell zu sichern und, soweit sie ihm damals zugänglich waren, ins Deutsche zu übersetzen. Und das gelang ihm perfekt, auf fast wundersame Weise.

Sämtliche sprachlichen Valeurs und Raffinessen sind in der Gottschedschen Übertragung erhalten, nicht zuletzt auch dank des Beistands von Christoph Schrempf, eines bedeutenden Nordisten der damaligen Zeit. Die übrige, nicht deutschsprachige Welt hat Kierkegaard Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts allein durch die Übersetzung von Gottsched/Schrempf kennengelernt; die danach losbrechende internationale Debatte über den Existentialismus fand ausschließlich anhand der Gottsched/Schrempfschen deutschen Übersetzung statt. Der Däne Sören Kierkegaard trat von Kopf bis Fuß in deutschem Sprachgewand an die Öffentlichkeit.

Dem Philosophen hätte das, vermutet Pankraz, ausgesprochenes Vergnügen bereitet, denn er liebte Verkleidungen, speziell sprachliche Verkleidungen, über alles. Dabei schrieb er einen ganz konzisen, von jedem Jargon sich freihaltenden, plaudernden, geradezu eleganten Stil, der jedem Leser sofort eingeht. Aber er führte den Leser auch immer wieder bewußt auf falsche Fährten, er handhabte das Quid pro quo in meisterlicher Weise, er betrachtete seine Bücher nicht nur als Mitteilungskladden für philosophische Analysen und Meinungen, sondern als belletristische Kunstwerke.

Kierkegaard sah sich in der Schule der deutschen Romantiker, besonders ETA Hoffmann beeindruckte ihn sehr, und er ahmte ihn nach. Sein Vorbild war Hoffmanns "Kater Murr", dessen überlieferte Tagebuchnotizen durch irgendeinen Zufall auf schier hoffnungslose Weise mit den Blättern über die Lebensgeschichte des Kapellmeisters Kreißler verklebt sind und mühsam getrennt werden müssen. So, genauso, verklebte und trennte Kierkegaard.

Die Mitteilungs-Ebenen in seinen Büchern wechseln ständig. Dogmatische Abhandlungen etwa über den Begriff der Angst werden plötzlich unterbrochen oder durchmischt mit Seiten aus dem Tagebuch eines erotischen Verführers, hoher Predigttext verwandelt sich unversehens in grelle Zeitungspolemik usw. usw. Hinzu kommt, daß Kierkegaard fast immer unter Pseudonym schreibt, genauer: unter ständig wechselnden Pseudonymen. Auch spielt er die doch von ihm selbst erfundenen Pseudonyme ständig gegeneinander aus, und zwar nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern sogar in seinen eigenen, gänzlich privaten Tagebüchern.

Das liest sich dann etwa so (Pankraz karikiert nur ganz leicht): "Was da seinerzeit Herr Johannes de Silentio als dialektische Lyrik zum Buchdrucker gebracht hat, das ist von Herrn Constantin Constantius völlig zu Recht in den Verdacht der Leere, des leeren Vorsichhinredens gebracht worden. Herr de Silentio scheint wirklich ein Stümper zu sein. Auch Herr Hilarius Buchbinder ist übrigens dieser Ansicht". Und alle in solchen Notizen aufgeführten Namen sind von Kierkegaard erfundene Pseudonyme für von ihm selbst stammende Werke! Man muß sich das einmal vorstellen.

Und nicht genug damit: Es gibt zu den pseudonymen Autoren auch noch pseudonyme Herausgeber, die ebenfalls ihren Senf zur Binnendebatte der pseudonymen Autoren dazugeben, die in Vor- oder Nachworten die Ansichten und Behauptungen ihrer Autoren anzweifeln oder richtigstellen, so daß am Ende niemand genau weiß, wer nun eigentlich was gesagt und was er damit gemeint hat. Und das ist genau die Absicht Kierkegaards, der hinter diesem ganzen Verwirrspiel steckt.

Es ist Flucht vor sich selbst, es ist aber auch Sich-einen-Spaß-Machen mit dem Publikum, vor allem mit den gehaßten "Professoren", die bei der Interpretation der Werke nicht zu selbstgewiß werden sollen, denen er gewissermaßen noch postum gern ein Bein stellen möchte. Der Effekt ist natürlich, daß niemand bei der Darlegung der Kierkegaardschen Philosophie sicher sein kann, auch wirklich das Richtige zu treffen.

Wenn man sich auf ein Zitat beruft, so wird es mit Sicherheit ein anderes Zitat geben, in dem genau das Gegenteil steht, und man kann höchstens dagegen sagen: "Ja, aber mein Zitat ist von Johannes Climacus, und der war doch der Liebling von Herausgeber Viktor Eremita, und der wiederum war doch der Liebling von Kierkegaard persönlich, während das Zitat, das meine Interpretation scheinbar widerlegt, doch nur von Vigilius Haufnensius stammt, und über den hat doch Frater Taciturnus bereits im Jahre 1846 gesagt, daß er den allerletzten Unsinn rede."

So also steht es mit der Interpretation von Sören Kierkegaard. Der Mann ist bodenlos wie der sprichwörtliche Reiter über dem Bodensee - und dabei doch von einem solchen inneren Ernst und einer solchen inneren Wahrhaftigkeit, daß jeder Leser vor ihm den Hut ziehen muß. Man darf auf die Erinnerungsaufsätze kommende Woche gespannt sein.


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