© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/05 04. November 2005

Voll von der Rolle
Hundert Jahre Welte-Mignon: Warum wir heute glasklar hören können, wie Felix Mottl 1907 Wagner spielte
Andreas Strittmatter

Wer heute eine Klaviersonate von Franz Schubert mit dem Pianisten Alfred Brendel hören möchte, hat es einfach. Dank CD-Spieler gastiert Brendel - nach Lust und Laune des Hörers - in jedem beliebigen Wohnzimmer oder in der Küche, ja selbst noch im Auto. Musik ist millionenfach reproduzierbar geworden. Noch vor hundert Jahren war das schier undenkbar. Dennoch können wir uns heute ein Bild davon machen, wie etwa Felix Mottl, seines Zeichens wichtiger Dirigent im Bayreuth von Wagners Witwe Cosima, Auszüge aus dem "Tristan", den "Meistersingern" und weiteren Werken anverwandter Provenienz auf dem Klavier interpretierte. Obwohl die Einspielungen bereits 1907 entstanden sind, klingen sie absolut glasklar, rausch- und knisterfrei.

Das ist zuerst einmal kein Wunder, denn das Instrument, das man hört, ist ein moderner Steinway-Flügel. Im strengen Sinn "aufgenommen" wurde die Musik auch erst im Jahr 2004. Als Bindeglieder zwischen dem längst toten Mottl und dem heutigen Flügel dienten ein Vorsetzer, den man quasi als "Pianisten" vor jedes Klavier schieben konnte, und einige Papierrollen, wie man sie auch von Jahrmarktsorgeln noch kennt, beides von der Freiburger Firma M. Welte & Söhne. Diese war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Bau von hochwertiger Musikautomaten und Orchestrien groß geworden, ehe ihr 1904 eine bahnbrechende Erfindung ungemeines Interesse einbrachte.

Auch für die Titanic wurde eine Orgel bestellt

Nun war das Verfahren, Musik auf Papierrollen zu konservieren, alles andere als neu. Es hatte aber einen Haken - meist konnten darauf nur die Töne eines Musikstückes gespeichert werden, kaum aber Feinheiten wie Lautstärkengrade, Verzögerung oder Beschleunigung des Tempos, von individuellen Ausdeutungen ganz zu schweigen. Welte gelang dies mit einem Aufnahmeverfahren, das die Interpretation eines Klavierwerkes bis in diffizilste Nuancen mit Hilfe von Pneumatik und Unterdruck möglich machte - all das im wahrsten Sinn des Wortes voll von der Rolle. Die Wiedergabetechnik mittels der Papierrollen ließ die Firma patentieren, das Aufnahmeverfahren aus Furcht vor Nachahmern allerdings nicht. Erst in den letzten Jahren konnte es rekonstruiert werden, da das Unternehmen bereits infolge des Siegeszuges von Rundfunk und Schallplatte ins Trudeln geriet und kaum technische Unterlagen erhalten geblieben sind. Der Zweite Weltkrieg versetzte der Firma endgültig den Todesstoß.

Mehr noch als die Vorsetzer waren es aber Klaviere und Flügel, die, ausgerüstet mit dem sogenannten "Welte-Mignon-System", den Siegeszug in die Welt antraten. Bereits 1905 - also vor genau 100 Jahren - war das System zur Marktreife gebracht, Welte gründete eine Zweigniederlassung in den Vereinigten Staaten und verkaufte seine in Kooperation mit renommierten Klavierbauern wie Steinway, Bechstein oder Blüthner realisierten Instrumente an Königshäuser, Adel und Großbürgertum. 1912 wurde das Angebot um die "Welte-Philharmonie-Orgel" erweitert, die gleichfalls nach dem "Welte-Mignon-System" funktionierte. Eine der ersten dieser Orgeln wurde von der White Star Line für die Titanic bestellt, allerdings konnte das Instrument nicht mehr rechtzeitig eingebaut werden. Es überlebte daher den Untergang und steht heute in einem Museum im badischen Bruchsal.

Parallel zum Siegeszug der Klaviere und Flügel gaben sich bei Welte Komponisten und Interpreten ein Stelldichein, um ihre Kunst auf Papierrollen zu bannen. Zu dieser illustren Schar zählten zum Beispiel Edvard Grieg, Camille Saint-Saëns, Eugen d'Albert, Max Reger und Paul Hindemith. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden so rund 2.500 Musiktitel eingespielt, die noch heute sowohl künstlerisch als auch musikwissenschaftlich einen ungemeinen Schatz darstellen - vorausgesetzt, man hört diese Musik auf einem der zwischenzeitlich raren exakt restaurierten Reproduktionsklaviere und -orgeln.

Rundfunk und Schallplatte liefen Welte den Rang ab

Ab 1930 liefen andere Möglichkeiten der Musikwiedergabe dem Welte-System freilich rasch den Rang ab, zuletzt hielt man sich mit dem Bau von Kirchen- und Spezialorgeln halbwegs über Wasser. Die letzte Erfindung des Hauses, eine 1936 vorgestellte Lichttonorgel, die als erstes elektronisches Instrument gesampelte Klänge wiedergeben konnte und gemeinsam mit Telefunken auf den Markt gebracht werden sollte, wurde im Dritten Reich unterdrückt, da der Erfinder Edwin Welte mit einer Jüdin verheiratet war.

Erst in letzter Zeit hat sich ein Bewußtsein dafür eingestellt, von welch hohem Wert das zwischenzeitlich spärliche Erbe dieses Unternehmens ist, mit dem aber immer noch teils unverantwortlich umgegangen wird. So wurde etwa in den letzten Jahren in Freiburg eine große Kirchenorgel von Welte durch einen Neubau ersetzt. Anderswo werden die Instrumente freilich zunehmend restauriert und erwecken längst verloren geglaubte Interpretationen - und irgendwie auch die Interpreten - zu neuem Leben.

Bis zum 8. Januar 2006 zeigt das Augustinermuseum in Freiburg eine kleine Studio-Ausstellung zur Geschichte der Firma Welte anläßlich des nun 100 Jahre alten "Welte-Mignon-Systems". Hierzu ist ein - thematisch etwas techniklastiger - Ausstellungskatalog erschienen. Die erwähnten Mottl-Aufnahmen mit dem Welte-Vorsetzer brachte das Label Tacet im Rahmen einer Edition mit weiteren Welte-Einspielungen heraus.

Foto: Gunther-Welte-Klavier (1927): Verkauf an Adel und Großbürgertum


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