© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/05 11. November 2005

Glühender Haß auf die Gesellschaft
Frankreich I: Die anhaltenden Ausschreitungen treffen die politische Klasse unvorbereitet / Offene Diskussion über Einwanderung und soziale Fragen notwendig
Alain de Benoist

Worauf warten wir, bevor wir das Feuer anzünden?" fragte vor einiger Zeit ein Lied der Rap-Gruppe NTM (Nique Ta Mère - "Fick Deine Mutter"). Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

Tausende verbrannte Autos, Brände in Schulen, Sporthallen, Kraftstoffdepots, Läden und Busbahnhöfen, Feuergefechte mit Polizisten und Feuerwehr; Ordnungskräfte wurden mit Steinen, Hämmern, Boulekugeln, Flaschen voll Schwefelsäure beworfen, Einkaufswagen von Dächern gestoßen, Journalisten körperlich angegriffen, Schulen, Kindergärten, Polizeiwachen, Postämter und Sozialeinrichtungen verwüstet, Banken und Lagerhallen geplündert, Erste-Hilfe-Zentren belagert: Seit zwei Wochen stehen die französischen Vorstädte (Banlieues) in Flammen.

Inzwischen existieren über 600 "rechtlose Zonen"

Erstaunlich an diesen Ausschreitungen, über die Presse, Funk und Fernsehen weltweit ausführlich berichten, ist weniger, daß sie ausgebrochen sind, als daß sie nicht früher ausbrachen. Im April 2005 beispielsweise machten am Rande einer Schülerdemonstrationen in Paris etwa tausend Einwanderer-Jugendliche aus den tristen Vorstädten "Jagd" auf die meist weißen Gymnasiasten, schlugen auf sie ein und raubten ihre Mobiltelefone. Manch Beutestück wurde sogar vor den Augen der entsetzten Schüler zertreten, nur um sie zu demütigen.

Dennoch traf ein solch vorhersehbares Ereignis wie die nächtelangen Ausschreitungen jetzt die politische Klasse - Bürgerliche wie Linke - unvorbereitet, die eine brutale Verstädterung betrieben und zugelassen hat, daß in den letzten zwanzig Jahren über sechshundert "rechtlose Zonen" entstanden, Ghettoviertel also, in denen fast ausschließlich Einwanderer wohnen, wo keine Post ausgeliefert wird, Rettungsdienste, Ärzte und Feuerwehr sich nicht hinwagen und die Polizei nur schwerbewaffnet erscheint. Diese "Gegengesellschaften" kennen nur das Recht des Stärkeren, die Schwarzwirtschaft und alle möglichen illegalen Händel.

In diesen Bezirken hat sich ein glühender Haß auf die Gesellschaft und ihre Vertreter gebildet, der geringste Funke reichte aus, um das Pulverfaß zum Explodieren zu bringen. Diesmal war der Auslöser bekanntlich der Unfalltod zweier Jugendlicher afrikanischer Abstammung im Pariser Vorort Clichy-sous-Bois, die sich von der Polizei verfolgt meinten und in eine Transformatorhäuschen flüchteten, wo sie einen Stromschlag erlitten (JF 45/05).

Von der Pariser Hauptstadtregion aus ergriff der Flächenbrand bald ganz Frankreich. In fast allen Départements haben Autos und Geschäfte gebrannt, sind Polizisten verletzt worden. Am Montag wurde das erste Todesopfer gemeldet, ein sechzigjähriger Mann, der von randalierenden Jugendlichen verprügelt worden und seinen Verletzungen erlegen war. Insgesamt waren etwa sechzig Gemeinden von regelrechten Guerillaaktionen kleiner, teils organisierter Gruppen betroffen. "Es war wie im Krieg", beschrieb ein Feuerwehrmann seine Erfahrung.

Die Linke kritisiert, daß seit dem Regierungswechsel im Mai 2002 für eine "bürgernahe" Polizei, verstärkt durch ein Netzwerk von Sozialbeauftragten, die Mittel gestrichen wurden. Die Bürgerlichen geben sich entrüstet und entsetzt. Die Regierung erklärt, "Härte" zeigen zu wollen, appelliert aber zugleich, den "Dialog" wieder aufzunehmen. Die muslimischen Religionsführer erlassen "Aufrufe zur Ruhe". Innenminister Nicolas Sarkozy von der bürgerlichen Regierungspartei UMP, der den ganzen Haß der Jugendlichen aus den Banlieues auf sich zog, als er sie als "Abschaum" beschimpfte, von dem es das Land zu "säubern" gelte, steht wieder einmal in vorderster Schußlinie.

"Es war wie im Krieg"

Am verblüffendsten ist, daß die Begriffe "Einwanderer" und "Einwanderung" so gut wie nie fallen - als ob diese semantische Scham über die wahren Verhältnisse hinwegtäuschen könnte. Vor allem die großen Medien üben sich in der Kunst des Euphemismus, indem sie die Randalierer als "Jugendliche" aus "benachteiligten" Schichten oder "schwierigen" Vierteln bezeichnen.

In Algerien legte die Zeitung El Watan weniger Zurückhaltung an den Tag und benannte den entscheidenden Punkt, nämlich die Notwendigkeit, "das Problem der Banlieues wieder in den weiteren Zusammenhang der Einwanderung zu stellen". Wie man deren Entwicklung Herr werden soll, weiß offenbar niemand. Die Beweggründe der Randalierer sind weder politischer noch religiöser Natur. Sie setzen ihre eigenen Schulen und Krankenhäuser, die Autos ihrer Nachbarn in Brand. Sie betreiben in ihren "Territorien" eine Politik der verbrannten Erde. Damit bringen sie eine bedingungslose Feindseligkeit gegenüber allem zum Ausdruck, was aus der Nähe oder aus der Ferne für Obrigkeit, Institutionen, Staatsmacht steht.

Die Gewalt, die wir in diesen Tagen erleben, ist ein anhaltender Schrei des Hasses, aber auch der Verzweiflung dieser "Jugendlichen", die fast alle arbeitslos und ohne Schulabschluß sind und feststellen, daß es für sie keinen Platz gibt in einer Gesellschaft, in der die Armut stetig zunimmt, während die großen Konzerne immer höhere Gewinne einstreichen. Dagegen lehnen sie sich auf, doch je mehr sie sich auflehnen, desto mehr verlieren sie den Halt. Diese jungen Menschen, die von Kindheit an nichts anderes kennen als die Straße und das Verbrechen, haben schlicht keine Zukunft. Ein "normales Leben" erscheint als unerreichbarer Traum, no future ist ihre Wirklichkeit.

Viele sehen die derzeitigen Unruhen als Zeichen, daß die "multikulturelle Gesellschaft" gescheitert ist. Solche Erklärungsmuster greifen zu kurz. Entgegen allen Bekundungen leben wir keineswegs in einer "multikulturellen" Gesellschaft, sondern in einer multiethnischen und dabei bedrückend monokulturellen, deren Kultur sich auf die Werte des Markts und die Leidenschaft am Konsum reduziert.

Begünstigt durch das auch im Wohnungsbau gültige Marktgesetz und die Privatisierung sämtlicher Lebensräume tritt zur ethnischen Apartheid die soziale. Die Randalierer sagen, sie halten es nicht mehr aus. Die Opfer ihrer Übergriffe halten es ebenfalls nicht mehr aus. Niemand hält es mehr aus. Und kein Mensch weiß, wie es zu ändern ist.

Grundsatzfragen bleiben weiterhin unbeantwortet

Die Verantwortung der Krawallmacher ist offensichtlich, eine größere Verantwortung tragen jedoch diejenigen, die zugelassen haben, daß es soweit kam, und nun meinen, die Probleme durch eine "technische" Lösung beheben zu können. Frankreich befindet sich momentan im völligen Stillstand. Seine politische Klasse ist überaltert, seine wirtschaftlichen Eliten haben nur eins im Sinn, ihre Unternehmen zu "verlagern". Jegliche intellektuelle Debatte sucht man vergebens.

Gut möglich, daß mit der Zeit wieder Ruhe einkehrt. Die Grundsatzfragen werden jedoch weiterhin unbeantwortet bleiben.

 

Alain de Benoist, französischer Philosoph, ist Herausgeber von "Eléments" sowie Chefredakteur von "Nouvelle Ecole" und "Krisis".


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