© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/05 11. November 2005

Pankraz,
die Bürger und das gelungene Trauerspiel

Im nun allmählich zu Ende gehenden Schillerjahr 2005 ist ein Wort wieder (halbwegs) zu Ehren gekommen, das man schon in den trüben Pfützen des Jargons versunken sah: das Trauerspiel. Schiller nannte seine Tragödien ausdrücklich "Trauerspiel", und die vielen Gedenkreden nahmen das auf; das "Trauerspiel" feierte Auferstehung als durch und durch seriöse Genrebezeichnung. Vorher war es nur noch als herablassende Phrase für Verächtliches, total Mißlungenes verwendet worden. "Ein wahres Trauerspiel", das meinte: Jämmerlicheres läßt sich gar nicht mehr vorstellen.

Ob das Wort ein glückliches war, darüber konnte man von Anfang an streiten. Irgendwann im siebzehnten Jahrhundert kam es in Deutschland auf, als Substitut für "Tragödie". Alle anderen Sprachen blieben bei der Tragödie, einzig in Deutschland hieß diese nun plötzlich "Trauerspiel". Kann man Trauer denn aber spielen? Man kann Trauer aus tiefstem Herzen empfinden, oder man kann sie heucheln, vortäuschen - aber spielen? Gespielte Trauer im realen Ernstfall scheint an sich ein Unding. Man trauert, oder man trauert nicht.

Hinzu kommt, daß die klassische Tragödie (und auch die Barocktragödie des siebzehnten Jahrhunderts) üblicherweise gerade kein Trauerspiel war. Es wurden keine Trauerfälle vorgeführt, sondern gewaltige Schicksalskämpfe von höchster Lebendigkeit, und wenn der Held am Ende unterging, so empfand man bekanntlich Schrecken und Mitleid, aber Trauer mußte man nicht tragen. Man zog vielmehr gewisse Schlüsse aus dem Geschehen, die Tragödien waren Lehrstücke und trugen zur Stärkung des Staatsbewußtseins oder, im Falle der Barocktragödien, des Kirchenbewußtseins bei.

Einen haltbaren Sinn erhielt die Wendung "Trauerspiel" erst im achtzehnten Jahrhundert, bei Lessing und eben bei Schiller, als sie mit dem Präfix "bürgerlich" versehen wurde ("Miss Sara Sampson", "Kabale und Liebe"). "Bürgerliches Trauerspiel": Darin ging es zwar ebenfalls meistens um Mord und Selbstmord, doch es war trotzdem keine Tragödie mehr. Denn es wurde nicht mehr mit dem Schicksal oder den Göttern gerungen, sondern allenfalls noch mit dünkelhaften Adligen und heimtückischen Kabinettssekretären. Den kleineren Verhältnissen entsprach das kleinere Wort.

Bei manchen, vor allem den späteren "bürgerlichen Trauerspielen" (Hebbels "Maria Magdalena", Schnitzlers "Liebelei" ) sind die Verhältnisse, die "Probleme" schon derart minimiert und banalisiert, daß jeder Anflug von tragischer Verstrickung ermattet und die Handlung jeden Augenblick ins Lächerliche abzugleiten droht. Der Zuschauer sagt sich: "Mein Gott, hier fehlt ja nur ein einziges kleines Wort, und der ganze 'Konflikt' löst sich sofort in Wohlgefallen auf. Warum sagt sie es denn nicht, das Wort?"

Es ist offensichtlich: Mit der Einengung des Trauerspiels auf das "bürgerliche Trauerspiel" gewann das Wort zwar an Eigenständigkeit, geriet aber sofort auch auf die abschüssige Bahn. Die Trauerspiele, die sich im Zeichen der Bürgerlichkeit ereigneten, wurden immer häufiger zu verkappten Lachnummern, zu Zeugnissen der Feigheit, des Kleinmuts und der Lebenslügen. Die Trauer wurde wirklich nur noch gespielt, in jeder Hinsicht des Wortes. Womit man wieder bei der Frage wäre: Läßt sich Trauer denn überhaupt spielen, schlägt dergleichen nicht sofort in übelste Heuchelei um?

Schon auf der Bühne, als bloße, von der fiktiven Handlung erforderte Schauspielerleistung, ist Trauer außerordentlich schwer darzustellen. Denn sie ist der wohl innerlichste Affekt, den es gibt, und gegen sie hilft kein Versteckspielen. Es gibt keine natürlichen, allgemein akzeptierten Ausdrucksformen der Trauer. Mal sind ihre Farben schwarz, mal sind sie weiß, mal äußert sie sich in salzsäulenhafter Erstarrung der Mimik und Gestik, mal in wilden Schmerzausbrüchen und ungehemmten Klagegesängen.

Das ist im realen Leben nicht anders als auf der Bühne, besonders wenn es um Kollektivtrauer geht oder gar um Kollektivtrauer, welche sich auf lange zurückliegende Ereignisse und Opfer bezieht. Dann nach der Ehrlichkeit der Trauer zu fragen, wäre verlorene Liebesmüh. Alles ist Verabredung und festgelegtes Ritual: die Mienen und die Gesten, die Gewänder und die Gesänge, und es ist schon viel oder alles gewonnen, wenn die Trauernden das von ihnen selbst festgelegte Ritual makellos und würdig zelebrieren. Dann entsteht so etwas wie Glaubhaftigkeit.

Die Trauer, der innerlichste Affekt, ist im selben Atem der äußerlichste. Sie legt keinen Ausdruck dringlich nahe, doch jeder falsche Ton in einer Trauerzeremonie wird sofort bemerkt und verdirbt das ganze Spiel. Ja, die ehrlich bezeugte Trauer ist in ihrem Wesen Spiel, Trauerspiel. Ernstfall und Spiel kommen in ihr zur Deckung. Sie ist Theater, gerade wenn sie ernst genommen werden will, und erfordert einen dramaturgischen Aufwand wie kaum etwas anderes, ob nun oben auf der Bühne oder unten im realen Leben, an Volkstrauertag oder Totensonntag.

Das Schillerjahr bietet guten Anlaß, sich über diese Konstellation Gedanken zu machen. Man stelle sich vor, die Regierenden und Offiziellen in Berlin hätten den Schöpfer der "Maria Stuart" und der "Jungfrau von Orléans" als Ausrichter eines jener Trauerspiele, die hierzulande jeweils im November fällig werden! Da wäre nicht die Spur von muffiger, nur am Rande interessierter "Bürgerlichkeit" wie leider sonst üblich, kein falscher, peinlicher Ton käme unter, kein Parvenü könnte verächtlich mäkeln: "Es war das reinste Trauerspiel."

Schillers berühmteste Devise war: "Der Mensch ist frei, indem er spielt." Jedes Spiel, und also auch das Trauerspiel, macht frei. Die Opfer und die tragischen Untergänge, denen die Trauer gilt, werden durch ein gelungenes Trauerspiel in ein eigentümliches, tröstendes Licht gerückt. Sie gehören dazu, aber sie drohen nicht.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen