© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/05 11. November 2005

Alle Wege führen zu Bob
"Gott trat ihm in den Hintern": Martin Scorseses brillante Dokumentation begleitet Dylan auf Musik-Expedition
Michael Insel

Ich war reingekommen, als gerade keiner guckte. Nun war ich drin, und niemand konnte daran etwas ändern!" Der Entwicklung, die Bob Dylan selbst in zwei lakonische Sätze faßt, widmet Martin Scorseses brillante Doku "No Direction Home" dreieinhalb Stunden, von denen jede Minute sehenswert ist: Um das Newport-Festival 1964 herum begann die alte Garde der amerikanischen Folkszene zu befürchten, Dylan werde der Rolle als "Stimme einer Generation", die sie ihm aufgezwungen hatten, abtrünnig.

Nicht zu Unrecht, wie sich ein Jahr später zeigen sollte, als Dylans fünfzehnminütiger Auftritt mit der Paul Butterfield Blues Band wie ein Gewittersturm über das Publikum hereinbrach. Pete Seeger jedenfalls hat den Schock bis heute nicht verwunden: "Die Band war so laut, daß man kein einziges Wort verstehen konnte. Mich hat es ganz irre gemacht. Ich sagte, stellt die Verzerrung ab! Wenn ich eine Axt hätte, würde ich das Mikrofonkabel auf der Stelle durchtrennen!"

Dylan, der heute sagt, er sei damals zu einer "musikalischen Expedition" aufgebrochen, ließ sich nicht beirren und überquerte 1966 mit den Hawks, aus denen später The Band wurde, den Atlantik, um auch seinen englischen Fans einen Stromschlag zu verpassen. Von den akustischen Solosets, mit denen jedes Konzert begann, konnte das Publikum gar nicht genug bekommen. Sobald die Musiker aber ihre Verstärker einstöpselten, um mit Liedern vom neuen Album "Highway 61 Revisited" die Fetzen fliegen zu lassen, wurde aus rechtschaffenen Folkies ein unflätiger Pöbel.

Für sein Zuhause hat er nicht einmal Verachtung übrig

Die fortschrittsresistenten Fans, die ihn damals ausbuhten, mußten seither als Hanswürste der Musikgeschichte herhalten, und Scorsese läßt einige besonders amüsante Exemplare aus den Archiven auferstehen, die da den Rückzug aus der Free Trade Hall in Manchester antreten, derweil im Hintergrund "God Save the Queen" spielt. "Er prostituiert sich!" zetert ein ernster junger Mann, während ein hysterisches Mädchen vor lauter Wut gar nicht weiß, was sie Dylan noch alles vorwerfen soll: Ein "Hochstapler" sei er, "schwachköpfig" und "neurotisch" dazu.

Währenddessen klopft der derart Gescholtene in der Garderobe Sprüche mit seiner Band, läßt sich nicht einmal von einer Todesdrohung aus der Fassung bringen, sondern stolziert Abend für Abend im hautengen schwarzen Anzug auf die Bühne und legt einen fulminanten Auftritt nach dem anderen hin.

"No Direction Home" beginnt und endet mit Dylans endgültigem Wandel vom Troubadour zum Elektrorocker. Den krönenden Abschluß bildet ein Mitschnitt des Konzerts vom 21. Mai 1966 in Newcastle, der hier erstmals gezeigt wird. Scorsese kann aus dem vollen schöpfen, kommt ohne Off-Kommentar aus, sondern läßt lediglich die Beteiligten zu Wort kommen, nicht zuletzt den notorisch maulfaulen Meister höchstselbst.

Man mag sich diesen unfröhlichen Mann kaum als Kind vorstellen und braucht es auch nicht: Für sein Zuhause in Hibbing, Minnesota, wo Vater Zimmerman einen Elektroladen betrieb, hat Dylan nicht einmal Verachtung übrig. Dort sei es zu kalt gewesen, um irgend etwas auf die Beine zu stellen, knurrt er, und man glaubt es gerne: Altes Filmmaterial zeigt die Parade zur Miss-Hibbing-Wahl 1950, Schulbälle, den Jahrmarkt und Berge von Schnee. Seine Familie erwähnt Dylan ein einziges Mal beiläufig in einer Anekdote über ein altes Mahagoni-Radio, auf das er als Zehnjähriger stieß. Darauf stand ein Grammophon mit einer 78er-Country-Platte namens "Drifting Too Far From the Shore". Ihr Klang sei "mystisch" gewesen, erinnert er sich ein halbes Jahrhundert später, und habe ihm das Gefühl gegeben, "ich sei jemand anders".

Als Student in Minneapolis wandte sich Dylan, der bislang Hank Williams, Johnny Ray, Webb Pierce, Gene Vincent, Odetta oder Muddy Waters gehört hatte, dem Folk und besonders einem Interpreten zu: Woody Guthrie. Er stahl die Plattensammlung eines Freundes, tauschte - Vorsicht, Ironie! - seine Elektro-Gitarre gegen eine akustische ein und trampte nach New York, um sich im hippen Greenwich Village mit Coverversionen von Guthrie, der Carter Family oder Dave Von Ronk einen Namen zu machen.

Zahlreiche Interviews mit Veteranen dieser politisierten Boheme lassen ein buntes Bild von ihrem Alltag entstehen: Maria Muldaur erzählt von Coffeehouse-Auftritten, bei denen man anschließend den Hut herumgehen ließ, um ein paar Dollar zusammenzubringen, Allen Ginsberg von den Tränen, die er geweint habe, als er zum ersten Mal "A Hard Rain's A-Gonna Fall" hörte: Der Funke der Beatbewegung war auf eine neue Generation übergesprungen.

Joan Baez läßt am Küchentisch vorm Kaminfeuer Höhen und Tiefen ihrer gemeinsamen Zeit Revue passieren. Doch erst Von Ronk, der mit einem lachenden und einem weinenden Auge schildert, wie Dylan seine Version von "House of the Rising Sun" für seine erste Plattenaufnahme "auslieh", bringt etwas von den Spannungen in dieser eingeschworenen Gemeinschaft junger Dichter und Musiker zur Sprache.

Vom Maskottchen der Folkszene zum Megastar

Neben den Rückblicken alter Weggefährten besteht "No Direction Home" hauptsächlich aus teils verschollenem Filmmaterial, einer Vielfalt selten gezeigter Fernsehclips - ein Augen- und Ohrenschmaus für alle Musikfans -, Mitschnitten von Pressekonferenzen und einigen bemerkenswerten Amateurfilmen. Freizügig greift Scorsese auf Ausschnitte aus "Don't Look Back", D. A. Pennebakers Doku der 1966er Tournee, sowie aus Alfred Lerners Film "Festival" zurück, der Dylans künstlerische Entwicklung anhand seiner Auftritte in Newport 1963, 1964 und 1965 verfolgt.

Wie einen Kobold läßt Scorsese ihn durch die turbulenten Sechziger spuken: in historischen Momenten dabei, aber nie ganz von dieser Welt. Seine beharrliche Weigerung, Lieder mit "aktuellem", sprich politischem Bezug zu schreiben, frustrierte die Puristen der Folkszene ebenso wie Journalisten, die einfach nicht hinnehmen wollten, daß nicht das Leben, sondern eine verdammt begnadete Phantasie diese rätselhaften Texte schrieb.

Aus heutiger Sicht, aus der Scorsese sein Material zusammengeschnitten hat, ist Dylans Werdegang vom Maskottchen der Protestbewegung zum millionenschweren Megastar nicht nur einleuchtend, sondern zwingend - "Gott tippte ihm nicht bloß auf die Schulter, er trat ihm in den Hintern!" - und die ganze Aufregung schwer verständlich.

Die Zuschauer pfeifen ihn Abend für Abend aus, Wildfremde wollen seine Finger berühren, Fotografen fordern ihn auf, an seiner Sonnenbrille zu nuckeln - da konnte er den berühmt gewordenen "Judas"-Ruf aus dem Publikum nur als Kampfansage verstehen und den Hawks zurufen: "Play it fucking loud!" In dem großartigen "Like A Rolling Stone", das sie daraufhin gemeinsam hinlegen, schwingen Trotz und Frust in jeder Note mit. Auf die Dauer vermochte selbst Dylan die ständigen Anfeindungen nicht wegzustecken: "Besorgt mir nächste Woche einen neuen Bob Dylan und benutzt den. Benutzt den neuen Bob Dylan und schaut, wie lange er hält" - so redet einer, der seit Monaten unter Hochspannung steht. Kein Wunder, daß er nach 1966 acht Jahre lang nicht mehr auf Tournee ging.

Von einer autorisierten Biographie sind keine skandalösen Enthüllungen zu erwarten: Die Drogen, die damals Teil seines Schaffensprozesses bildeten, kommen nirgends vor, und obwohl sich Dylan seinem Interviewpartner zwar griesgrämig, aber doch ganz entspannt stellt, mag er nach wie vor nicht allzu viele Worte über sein Leben abseits von Studio und Bühne verlieren.

"Gastauftritte" von Mavis Staples, Liam Clancy, Joan Baez und Maria Muldaur runden die Doppel-CD ab. Wer sich an Dylan immer noch nicht sattgesehen und -gehört hat, kann "Like A Rolling Stone" nebst acht weiteren Live-Aufnahmen in voller Länge abspielen - was ihm keineswegs die Anschaffung des Soundtracks (Volume 7 der Bootleg Series) erspart, der bereits seit Oktober auf dem Markt ist. Denn "No Direction Home" zeigt vor allem eins: welch schwaches Echo seiner besten Auftritte Dylans Studioalben sind.

Bob Dylan - No Direction Home, Paramount, Regie: Martin Scorsese, Format: Dolby Digital Surround 5.1, Sprache: Englisch, Untertitel: Deutsch u.a., erhältlich ab 10. November.

Foto: Bob Dylan 1966 auf einer Pressekonferenz in Paris: Die "Stimme seiner Generation" wollte er nie sein


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