© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/05 18. November 2005

"Irgendwie cool"
Einwanderung: Die radikale deutsche Linke diskutiert im Internet über die Krawalle in Frankreich
Claus-M. Wolfschlag

Die Aufstände in den französischen Banlieues führen bei der radikalen Linken in Deutschland zu unterschiedlichen Reaktionen. Unverständnis über die "Sinnlosigkeit" der Gewalt korrespondieren mit Sorgen vor einer Verschärfung der eigenen Lage, einem "rassistischen" Rückschlag. Auf der Netzseite indymedia.org finden dazu angeregte Forumsdiskussionen statt. Eine Minderheit zeigt sich offen in Feierlaune und hofft auf ein Überspringen des Funkens ans rechte Rheinufer: "Ein europaweiter Aufstand beginnt. Revolte. Bambule. Feuer & Flamme für jeden Staat."

Die Krawalle werden aber auch gerne in einen globalen Zusammenhang gestellt. Es gehe um die Belange von 5,5 Milliarden Menschen und um eine "zukunftsfähige Gesellschaft" von "Ceuta nach Caracas, über St. Dennis, Brixton, Oeiras, les Buisserines" bis zur Bronx. Humanistisch ausgerichtete Kritiker wenden sich allerdings gegen das wahllose Ausleben der Gewalt: "revolutionär bzw. emanzipatorisch ist nicht, Mollies auf Synagogen zu werfen ... Brandbomben in Linienbusse zu werfen, wo behinderte Menschen im Rollstuhl drin sitzen." Dabei spielt bei manchen die Sorge mit, in Deutschland einen Rückschlag erleiden zu müssen: "In erster Linie scheint es die örtliche Polizei zu sein, die einen rassistischen Privatkrieg führt und die Sache weiter anheizt. Ansonsten ist es halt auch eine Strategie, die leicht Nachahmer findet. Es ist wirklich kein Problem, ein Auto anzuzünden, und jetzt halt irgendwie cool. Daß dies aber scheinbar wahllos geschieht, macht sie auch ziel- und sinnlos irgendwie. Wie gesagt, in Deutschland ginge so ein Schuß voll nach hinten los: Mehr Polizei, mehr Rassismus, mehr Gewalt."

Die Jugendlichen werden in Schutz genommen

Allgemein überwiegt aber die Tendenz, die marodierenden Jugendlichen in Schutz zu nehmen: "Vergeßt nicht, daß die Bullen in Frankreich übelst rassistisch drauf sind. Der Innenminister ist ein Rechter. In Frankreich kämpfen Menschen gegen die staatliche Repression. Aber das verstehen hier einige scheinbar nicht ..." Analytiker kommen zu anderen Schlüssen: "Die Aktionen der Jugendlichen in Frankreich richten sich nicht vorrangig gegen die Bullen, reagieren sich aber an ihnen ab. Die größeren Straßenschlachten werden jetzt eher vermieden, kleinere Gruppen suchen sich Ziele aus. Daß zuweilen Autos, Apotheken und Feuerwehren angegriffen werden, ist schade. Es ist sogar überflüssig. Doch die Konfrontation fragt nicht immer nach nützlich oder überflüssig. Der Prozeß einer Ausdifferenzierung der Aggression ist noch nicht ausgebildet."

Das heißt, derartige Aktionen müssen noch erst von fachkundigem Personal in die richtigen Bahnen gelenkt werden, um sie politisch nutzen zu können. Für solch geistige Ausbildung bietet sich das bereits 1998 gegründete deutsche Netzwerk "kanak attak" (JF 18/03) an, das vor allem durch politische Aktionen, Kulturveranstaltungen und Rap-Musik junge Ausländer politisch zu radikalisieren versucht. "Kanak attak" fordert eine ungehinderte Einwanderung nach Deutschland, die sofortige Ausstattung der Einwanderer mit deutschen Pässen, soziale Angleichung an die Lebensverhältnisse der deutschen Einheimischen und volle politische Rechte für alle Migranten.

Diese Forderungen werden durch öffentlichkeitswirksame Aktionen verbreitet. Zum Beispiel die derzeit laufende Plakataktion "Mit dem Zweiten sieht man besser" für Doppelte Staatsbürgerschaft. Oder durch ein Filmprojekt, in dem ein "Kaiser von Kamerun" in Köln globale Pässe verteilt. Die Internetseite der Gruppierung verrät viel über ihre Strategie. 2001 führten Thomas Seibert und Martin Glasenapp von der Zeitschrift analyse und kritik ein Interview mit Vassilis Tsianos und weiteren "kanak attak"-Aktivisten. Darin heißt es: "Eines unserer Ziele war, die Geschichte des antirassistischen Widerstands von MigrantInnen zu rekonstruieren, eine ungeschriebene und auch unbekannte Geschichte. Wir wollten eine Tradition freilegen, die zum Teil nur untergründig gewirkt hat und verschüttet war. Die Idee war: Wenn du eine eigene Geschichte hast, bist du machtvoller, kannst du auf etwas verweisen, was überliefert und angeeignet werden kann. Das wollten wir nutzen, um organisierend zu wirken: Es ging also auch um ein Bildungsprojekt für uns selbst und nach außen hin. Das Ziel war, aus den Niederlagen und Erfolgen der Kämpfe seit den 60er Jahren zu lernen und zu verstehen, wie sich Rassismus in Deutschland geändert hat."

So mußten Opfermythen geschaffen werden. Ausgebeutete Einwanderer hätten in Deutschland ein schweres Los zu ertragen. Demnach sei das "Leben der MigrantInnen und Flüchtlinge in Deutschland durch Rassismus, Ausgrenzung und Generalverdacht" bestimmt:

Sehnsucht nach dem Generalstreik

"Diese spezielle Entrechtung geht Hand in Hand mit anti-islamischen Ressentiments, dem Gerede von Parallelgesellschaften, der steigenden Tolerierung von Abschiebungen, der Aufrechterhaltung der Residenzpflicht und des Duldungsstatus, der systematischen Abschiebung von sogenannten Geduldeten etc. etc. Es gibt einen massiven Angriff auf die Lebensverhältnisse aller in Almany lebenden MigrantInnen - mit oder ohne Papiere." In diese Klage gehört die Sorge um die weitere Gewährung der Sozialhilfe, um die unbefristete Aufenthaltsgenehmigung: "Familienzusammenführung wird mehr denn je zu einem komplizierten Strategiespiel."

Die von Deutschen angeblich geforderten Punkte "Hierarchisierung, Assimilationszwang, Domestizierung und soziale Unterordnung von MigrantInnen" werden von "kanak attak" abgelehnt, statt dessen mehr "politische und soziale Rechte" - natürlich ohne gemeinschaftliche Pflichten - gefordert: "Alle Rechte für formale Gleichstellung oder die Gewährleistung des gleichberechtigten Zugangs zu sozialen, ökonomischen und politischen Ressourcen wurden bis heute nicht gewährt. Die Aneignung von vorenthaltenen Rechten ist aber eine 'traditionelle grenzüberschreitende Spezialität' der migrantischen Communities. Wenn es nicht anders geht, dann eben klandestin! Das selbstermächtigte Zubereiten des zweiten Passes ist eine solche Variante. Einbürgerung - automatisch und nur auf dem Silbertablett! No Integration - Kampf um kollektive Rechte anstatt Privilegien!" Auf geschickte Weise wolle man der angeblich "rassistischen Diskriminierung" der "Kanaken" durch die deutsche Gesellschaft entgegenarbeiten: "Doch jede neue Regel, jede neue juristische Kodifizierung ruft auch neue autonome Taktiken hervor, diese individuell und kollektiv zu umgehen. Diese inoffizielle und sicherlich 'irreguläre' Migration hat die Bedingungen verändert, unter denen sie stattfindet."

Machtpolitisch wünscht man sich endlich den "Generalstreik", um die eigenen Forderungen für das Wahlrecht, höhere Löhne sowie die "Selbstverteidigung" durchsetzen zu können. Der Generalstreik ist die friedliche, geordnete Variante des Pariser Aufstands. Das Ziel liegt ähnlich und wird von "kanak attak" auch so gewertet: "Während heute in Paris die zweite Generation der Sans Papiers für ihre Rechte auf die Straße geht, bleibt in Deutschland die Kriminalisierung von MigrantInnen mit irregulärem Aufenthalt weitgehend unwidersprochen. Wir haben im Sommer 2002 zusammen mit der Flüchtlingsinitiative Brandenburg eine breite Mobilisierung für ein Recht auf Legalisierung begonnen. Anders als in Frankreich, wo es eine Bewegung der Papierlosen war, spricht unser Kampf alle hier lebenden Leute ohne deutschen Paß an. Der Prozeß der Entrechtung, mit dem Leute 'illegal' gemacht werden, findet nicht nur an der Grenze statt, sondern verläuft quer durch den kanakischen Alltag. Statt länger schlechte Gesetze zu verteidigen, kämpfen wir offensiv um Rechte. Rechte, die es noch nicht gibt, die wir uns aber längst genommen haben." Wer auf eine Befriedung der "multikulturellen" Konfliktpotentiale hofft, auf Verständnis für deutsche Belange und wirtschaftliche Sachzwänge, dürfte bei "kanak attak" definitiv an der falschen Adresse sein.


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