© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/05 18. November 2005

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Gelassenheit
Karl Heinzen

Die Große Koalition ist geschlossen. Die Parteien, bei denen in den vergangenen Jahrzehnten abwechselnd die Federführung lag, die Weichen auf jene Misere zu stellen, in der Deutschland sich heute befindet, agieren nunmehr mit vereinten Kräften. Es muß kein Nachteil sein, daß sie in ihrem Regierungsprogramm mehr versprechen, als die Menschen von ihnen erwarten.

Im Gegenteil: Sowohl Helmut Kohl als auch Gerhard Schröder gingen noch Risiken ein, als sie solides wirtschaftliches Wachstum, den Abbau der Neuverschuldung des Staates und vor allem eine drastische Reduzierung der Arbeitslosigkeit versprachen. Sie mußten damit rechnen, daß zumindest der Herausforderer im nächsten Wahlkampf höhnisch auf die Diskrepanz zwischen vollmundigen Versprechungen und dem tatsächlich Erreichten hinweisen würde.

In dieser Hinsicht kann Angela Merkel ihr Amt weitaus entspannter antreten. Die Bürger haben begriffen, daß eine Erneuerung von Staat und Wirtschaft nur durch eine Verschlechterung ihres Lebensstandards zu haben ist. Sie messen die Politik nicht mehr daran, ob sie etwas für die Menschen bewegt. Wären sie noch im Glauben der Sozialen Marktwirtschaft befangen, daß der Staat in ihrem Interesse den Rahmen für unternehmerisches Handeln setzt und die Reichen in die Pflicht für das Gemeinwesen nimmt, hätten mehr als bloß acht Prozent für die Linkspartei gestimmt, in der sich nun die letzten Visionäre aus Ost und West sammeln, die noch den anachronistischen Maximen von Gerechtigkeit und Solidarität anhängen.

Auch wenn die Große Koalition wohl ihr Ziel verfehlen dürfte, Deutschland wieder in eine europäische Spitzenposition zurückzuführen, hat sie immerhin gute Chancen, wenigstens das ihr Mögliche zu bewirken. Sie forciert wie erwartet den Sozialabbau, ohne das Tempo zu übertreiben. Die Bürger haben auf diese Weise die Möglichkeit, sich allmählich an neue Selbstverständlichkeiten zu gewöhnen.

Vor allem aber entlastet die Große Koalition die Gewissen der Menschen. Normalerweise darf sich eine Hälfte der Bevölkerung nach Wahlen als Sieger sehen und empfindet dadurch eine gewisse Mitverantwortung für die Politik, die im folgenden betrieben wird. Diese Regierung jedoch hat kaum jemand gewollt. Die Bürger können das, was ihnen widerfährt, daher mit Gelassenheit hinnehmen.

Den Vorwurf, nun die Konsequenzen aus ihrer eigenen Wahl tragen zu müssen, brauchen sie nicht an sich selbst zu richten.


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