© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/05 18. November 2005

Gesellschaftlicher Anachronismus
Ausgerechnet in der Neuen Welt haben sich regelrechte Dynastien etabliert / Ronald Gerste gibt einen Überblick
Matthias Schickel

Der Titel ist gut gewählt und weckt in seiner scheinbaren Widersprüchlichkeit das Interesse des Lesers - Dynastien in einem Land, das sich selbst als die Verkörperung demokratischer Gleichheit versteht und das den Bruch mit dem alten Europa auf jede nur denkbare Art vollziehen wollte.

Das junge Amerika als Ausgangspunkt einer neuen Weltordnung, die auf einem revolutionär modernen Wertesystem zu errichten war und die das aufklärerische Prinzip der Gleichheit konsequent verwirklichen wollte: "So sah ich, je mehr ich mich mit der amerikanischen Gesellschaft beschäftigte, in der Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen immer deutlicher das schöpferische Prinzip, das allen Einzeltatsachen zugrunde zu liegen schien, und ich stieß immer wieder auf diese Gleichheit als auf einen zentralen Punkt, in den alle meine Beobachtungen einmündeten" (Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika).

In der Tat scheint der kometenhafte Aufstieg einzelner Männer und Familien in den Vereinigten Staaten aus bescheidensten Anfängen den alten und verführerischen Topos des Weges vom Tellerwäscher zum Millionär, der jedem tüchtigen Mann offensteht, augenfällig zu bestätigen. Daß ein solcher Aufstieg in der Neuen Welt sich nicht zwangsläufig ergibt, mußten (und müssen) Millionen Auswanderer vor allem aus Europa und Asien schmerzlich erfahren.

Doch diese Tatsache braucht den in Magdeburg geborenen und seit langem in den USA lebenden Autor Ronald D. Gerste nicht zu interessieren, will er doch das Augenmerk auf Familien lenken, "in denen das Streben nach Macht und Ruhm, nach Reichtum und Einfluß Teil des Erbgutes zu sein scheint". So gleicht seine dreiteilige Beschreibung des Aufstiegs mächtiger und einflußreicher Clans aus Politik und Wirtschaft auch eher einer Darstellung des in der amerikanischen Gesellschaft offenbar immer noch leicht zu verwirklichenden Traums vom freien und ungehinderten Streben nach Glück als einer tatsächlich ergiebigen Analyse des US-amerikanischen Systems, in dem es neben einigen Gewinnern auch unzählige Verlierer gibt.

Der Aufstieg der politischen Dynastien der Adams, der Roosevelts, der Kennedys und der Bushs fasziniert Gerste ebenso wie der Erfolg der Wirtschaftstycoons der Vanderbilts, der Rockefellers, der Fords und der Ochs-Sulzbergers. Das Buch wird abgeschlossen mit der rhetorischen Frage, ob es auch im 21. Jahrhundert solche Dynastien geben werde - beispielhaft führt der Autor die Waltons, die mit Abstand reichste Familie der USA, "in deren Besitz sich Wal-Mart befindet", die Gates und die Clintons an, um damit seine Frage auch schon selbst beantwortet zu haben.

So fragt sich denn am Ende der Leser, was dieses Buch für einen Zweck erfüllen will. Der Arzt und Historiker Gerste, der in Washington lebt und bei Pustet bereits eine Reihe von Büchern veröffentlicht hat, die einer ähnlich rhapsodenhaften Blitzlichtstrategie folgen - wie "Die First Ladies der USA" und "Defining Moments: Amerikas Schicksalstage" -, hat Verständnis für seine Leser: Die inhaltliche Dürftigkeit gleicht ein offensichtliches Schreib- und Formulierungstalent auf den ersten Blick weitgehend aus - allerdings eben nur auf den ersten Blick. Schon sehr schnell schleicht sich bei der Lektüre des Buches das unbestimmte Gefühl ein, daß der Autor fleißig, aber ohne einen roten Faden zu verfolgen, nette und teilweise auch pikante Details aus den Familiengeschichten der Roosevelts, der Kennedys und der Vanderbilts zusammengetragen hat.

So erfährt man beispielsweise, daß Präsident Franklin Delano Roosevelt den angehenden Botschafter in London, Joseph Kennedy, aufgefordert haben soll, vor ihm die Hosen herunterzulassen, um den ihm unsympathischen Multimillionär Kennedy zu demütigen. Der ehrgeizige Kennedy habe diese Erniedrigung über sich ergehen lassen, und so nimmt der Leser die Erkenntnis mit, daß diese "vorübergehende, partielle Entkleidung (...) sich letztlich für Joe Kennedy und seine Familie gelohnt" habe. Die politischen Leistungen des wohl bedeutendsten amerikanischen Präsidenten im zwanzigsten Jahrhundert werden hingegen lediglich mit den dürren und nichtssagenden Worten charakterisiert, daß diese Präsidentschaft eine "Epoche" war, "die den Wandel der USA zur Weltmacht sah und die unsere Gegenwart nach wie vor entscheidend mitprägt".

Zugunsten einer besseren Lesbarkeit hat der Autor offensichtlich darauf verzichtet, die Lektüre durch komplizierte Abschweifungen in die historisch-politischen Zusammenhänge unnötig zu erschweren und beispielsweise die Zusammenhänge zwischen Kapital und politischer Macht in den Vereinigten Staaten differenzierter darzustellen. Auch die Eigenart des amerikanischen Systems, fachfremden Quereinsteigern wichtige und durchaus anspruchsvolle Posten in der amerikanischen Diplomatie und Politik anzubieten, wird kaum problematisiert, wenn man von dem verschämten Halbsatz absieht, daß offensichtlich niemand Joseph Kennedy "beigebracht hatte, was man als Botschafter sagen durfte und was nicht".

Die locker und leicht geschriebene Darstellung bewegt sich durchgängig auf der Höhe des Schlüssellochs, wohl in der Absicht, den Leser zu einem Kumpel zu machen - und ihn dann ständig bei dem offenbar unverstellten Blick auf die Niveaulosigkeiten amerikanischer Vorzeigefamilien diebisch feixend in die Rippen zu boxen. Was bleibt, ist ein nicht nur mitunter etwas voyeuristischer Blick in die Schlafgemächer und auf die Trinkgewohnheiten amerikanischer Familien, denn ansonsten bietet dieses Buch nicht viel. Die aneinandergereihten Familiengeschichten und Geschichtchen schwirren ziemlich zusammenhanglos in und durch die amerikanische Vergangenheit, ohne daß irgendwann wirklich deutlich würde, was der Autor uns damit eigentlich mitteilen wollte.

So liegt es schließlich am Leser selbst, was er von diesem Buch hält, wenn er es nach knapp über 300 Seiten und einem anderthalbseitigen Literaturverzeichnis zuklappt. Falls er sich an einem gut geschriebenen und anekdotenhaft-respektlosen Blick hinter die Kulissen der amerikanischen Machteliten erfreuen wollte, wird er sicher nicht enttäuscht sein - Gerste kratzt an mancher amerikanischen Ikone und stellt sie in ihrer "Menschlichkeit" dar. Hat der Leser hingegen eine fundierte und kritische Analyse des US-amerikanischen Gesellschaftssystems erwartet, so wird er sich über die Lektüre am Ende sogar ärgern können.

Ronald D. Gerste: Amerikanische Dynastien. Friedrich Pustet Verlag, Regensburg 2005, 320 Seiten, gebunden, Abbildungen, 26,90 Euro

Foto: US-Industrieller John D. Rockefeller (l.) mit seinen fünf Söhnen: Kometenhafter Aufstieg


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