© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/05 25. November 2005

Im Alter mehr soziale Kompetenz
Arbeitsmarkt: Das unterschätzte Potential - Warum über 50jährige keine Stellen mehr finden
Friedrich-Thorsten Müller

Es ist paradox. Auf der einen Seite beschäftigen rund 60 Prozent der Betriebe in Deutschland heute keine Mitarbeiter mehr, die älter als 50 Jahre sind. Andererseits will die neue Bundesregierung nun ernst machen und kündigt den heute 35jährigen ein Renteneintrittsalter von 67 Jahren an.

Bereits 2001 waren nach Berechnungen des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) fast 3,5 Millionen Menschen zwischen 55 und 64 Jahren offen oder versteckt arbeitslos oder im Vorruhestand, mit jährlichen Kosten für die Allgemeinheit von 37,4 Milliarden Euro. Trotz eines bei lediglich 62,5 Jahren liegenden durchschnittlichen Renteneintrittsalters gehört fast jeder zweite Langzeitarbeitslose in die Gruppe der über 50jährigen. Keine rosigen Aussichten auch für die heute noch Jüngeren.

Aber wie kommt es, daß über 50jährige auf dem Arbeitsmarkt so wenig gefragt sind? Die Argumente, warum es ältere Jahrgänge auf dem Arbeitsmarkt schwerer haben, sind hinreichend bekannt: Sie stehen unter Verdacht, daß ihr fachliches Wissen nicht ganz auf dem neuesten technischen Stand sei.

Sie gelten als langsamer, geringer belastbar, weniger ehrgeizig - und werden mit einem höheren Krankenstand in Verbindung gebracht. Darüber hinaus geht die Wirtschaft davon aus, daß sie aufgrund der in Wirtschaftswunderzeiten erreichten Gehälter mit den in den letzten Jahren eher sinkenden Lohn- und Gehaltsangeboten für Neueinstellungen nicht wirklich motiviert werden können. Viele Arbeitgeber glauben darüber hinaus, daß man einen älteren Mitarbeiter - einmal eingestellt - so leicht nicht "wieder loswird".

Doch diese Vorbehalte sind nur zum Teil richtig oder sogar falsch. Sicher stimmt es, daß der technische Stand des Jahrzehnts, in dem man seine Ausbildung durchlaufen hat, einen Menschen am meisten prägt. Dies heißt aber nur für die wenigsten Berufe, daß man nicht schon allein durch Berufserfahrung und übliche betriebliche Weiterqualifikation auf der Höhe der Zeit bleiben kann.

Vor allem gilt jedoch: Die Bedeutung langjähriger Routine wird ebenso unterschätzt wie der Nutzen eines häufig "geordneteren Lebenswandels" älterer Jahrgänge - in Zeiten, wo häufig selbst 40jährige noch regelmäßige Diskogänger ohne stabilisierenden familiären Hintergrund sind. Nicht zu vergessen: Mit zunehmendem Alter verfügen Menschen nachweislich über mehr soziale Kompetenz und größere Netzwerke, die Arbeitgeber mitunter durchaus für sich nutzen können.

Risikoarme befristete Arbeitsverträge möglich

Ähnlich sieht es bei der Frage nach dem Krankenstand aus. Sicher steigen für die Krankenkassen die Kosten mit dem Alter. Wie aber jüngst eine Studie der AOK herausgefunden hat, liegt dies eher daran, daß ältere Arbeitnehmer im Krankheitsfall länger abwesend sind.

Die Häufigkeit des Krankseins ist dagegen etwa bei den bis 24jährigen (mit 53 Prozent mindestens einmaliger Krankheitsabwesenheit pro Jahr) höher als bei Mitarbeitern mittleren Alters, bei denen dieser Wert unter 50 Prozent liegt. Im Zweifel ist es jedoch für einen Unternehmer leichter, sich auf längere Krankheitsabwesenheiten einzustellen als auf häufigere. Und da zusätzlich durch den Wegfall der Lohnfortzahlung nach sechs Wochen die Allgemeinheit einen Gutteil dieser Krankheitskosten übernimmt, ist somit auch dieses Argument nur bedingt zutreffend.

Noch positiver dürfte es in der Praxis bei der Frage nach "Ehrgeiz und Motivierbarkeit" Älterer aussehen: Auch jüngere Arbeitnehmer sind heute damit konfrontiert, daß ein Jobwechsel zu demotivierenden finanziellen Abstrichen führt. Die Generation der heute über 50jährigen hat hier aber den Vorteil, durch ihre Sozialisation in den fünfziger und sechziger Jahren häufig noch ein stärkeres Pflichtbewußtsein vermittelt bekommen zu haben, als dies in der Spaßgesellschaft der achtziger und neunziger Jahre der Fall war. Von dieser Disziplin profitiert ein Arbeitgeber gerade in Zeiten der Globalisierung, wo die Möglichkeiten, wie früher mit Geld zu motivieren, nicht mehr in diesem Umfang gegeben sind.

Des weiteren wird häufig unterschätzt, wie weit der Staat bereits heute den Arbeitgebern durch arbeitsrechtliche Spielräume und Förderungen entgegenkommt. Zwar muß immer noch der in vielen Tarifverträgen verankerte besondere Kündigungsschutz für über 55jährige als Beschäftigungshemmnis für diese Personengruppe gesehen werden. Dies stellt für viele tarifgebundene Arbeitgeber einen klaren Anreiz dar, solche Mitarbeitergruppen rechtzeitig vor Erreichen dieser Altersgrenze zu "entsorgen". Andererseits gibt es aber längst die Möglichkeit bei Neueinstellungen, unbegrenzt mit über 50jährigen risikoarme befristete Arbeitsverträge abzuschließen. Darüber hinaus sind staatliche Zuschüsse zu den Lohnkosten, zur Qualifizierung und ein Wegfall des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung für über 55jährige gesetzlich verankert.

Längst gibt es in Deutschland Firmen, die das Potential älterer Arbeitnehmer erkannt haben. So hat zum Beispiel die französisch-dänische Supermarktkette Netto in Berlin-Lichtenberg und Neuruppin 1999 und 2002 Märkte eröffnet, wo keiner der Beschäftigten unter 45 Jahre alt sein durfte. Ähnlich agieren die IT-Werke (für biometrische Zahlungs- und Autorisierungssysteme) im badischen Lahr, deren Mitarbeiter im Durchschnitt über 50 Jahre sind, weil Unternehmens-Chef Ulrich Kipper auf "Gewinn durch Erfahrung und Gelassenheit" setzt.

Aber gute Argumente und Positivbeispiele ändern nichts daran, daß noch viel zu tun ist, bis der Bürger in einem Renteneintrittsalter von 67 Jahren etwas anderes als ein Horrorszenario für die eigene Lebensplanung sehen kann. Es muß ein Umdenken in der Wertschätzung des Alters erfolgen, es muß das lebenslängliche Lernen forciert werden. Es sollte Gemeingut werden, daß eine Karriere ohne Ansehensverlust mit 50 ihren Zenit übersteigen darf, man somit nicht bis zur Rente steigende Gehälter erwarten kann. Weiter wird der Staat den Weg fortsetzen müssen (etwa durch einen reduzierten Lohnfortzahlungszeitraum von vier Wochen für über 50jährige), den Arbeitgebern Anreize zur Beschäftigung Älterer zu geben. Vor dem Hintergrund des demographischen Niedergangs Deutschlands und Europas gilt, was Walter Hirrlinger (SPD), der Präsident des Sozialverbands VdK, zu diesem Thema sagte: "Deutschlands Wirtschaftsbosse müssen endlich aufwachen und begreifen, daß sie es sich nicht länger leisten können, auf die wertvollen Erfahrungen älterer Arbeitnehmer zu verzichten".


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