© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/05 02. Dezember 2005

Die Nationalseele bäumt sich auf
Gekränkter Stolz und Größenwahn: Der türkische Autor Burak Turna propagiert eine antiwestliche Strategie
Claudia Hansen

Wir schreiben das Jahr 2010. Dunkelheit und Angst liegen über Europa. Die multikulturellen Gesellschaften brennen. Muslimische Einwanderer, provoziert von europäischen Rechtspopulisten, brandschatzen und zerstören ganze Viertel. Darauf haben die rassistischen Parteien der "Alteuropäer" noch größeren Zulauf: Paris, Berlin und Wien sind bald in der Hand "faschistischer" Regierungen. Die EU-Kommission hat sich abgemeldet. Nun häufen sich Anschläge auf Muslime, vor allem auf türkische Einwanderer. Und auch in den baltischen Staaten kommt es zu Jagdszenen, dort auf die russische Minderheit.

Da entschließt sich die Regierung in Moskau zu einem präventiven Militärschlag gegen die EU: Der Übertritt russischer Truppen über die Neiße (bei Görlitz) markiert den Auftakt zum Dritten Weltkrieg, in den nach und nach auch die Supermächte USA und China verwickelt werden. Die Türkei, gekränkt von der EU-Zurückweisung und im Bestreben, den muslimischen Glaubensbrüdern zu helfen, schließt sich sofort den Russen an. Nach harten Kämpfen stehen Ankaras Spezialeinheiten vor Berlin, ringen mit den "Nazis". Gemeinsam befreien Russen und Türken den alten Kontinent aus den Klauen der "Faschisten", retten Demokratie und Menschenrechte. Istanbul wird Hauptstadt einer neuen Europäischen Union.

"Der Dritte Weltkrieg" ("Üçüncü Dünya Savasi") heißt das mit viel militärischem Vokabular protzende Buch. Es findet in der Türkei gegenwärtig reißenden Absatz, steht in vielen Istanbuler Buchläden im Schaufenster. In nur zwei Monaten seit seinem Erscheinen im Juni wurden mehr als 130.000 Exemplare verkauft - eine hohe Zahl für ein ansonsten eher bücherabstinentes Volk. Geschrieben wurde "Der Dritte Weltkrieg" von dem erst 30jährigen Journalisten Burak Turna. Innerhalb weniger Monate ist er zum Kultautor der Türkei avanciert, dessen Botschaft die zunehmend eurokritische Jugend begierig aufnimmt. Turnas Vorträge über "Die Weltordnung nach der Auflösung der Europäischen Union" finden stets in ausverkauften Häusern statt.

Mit dem Roman "Metallsturm" ("Metal Firtina"), verfaßt gemeinsam mit Orkun Uçar, begann vor knapp einem Jahr Turnas kometenhafter Aufstieg. Auch hier schilderte er einen Krieg, diesmal zwischen den USA und der Türkei, der im Armageddon endet. Das Thema zündete, da die Invasion des Iraks durch US-Truppen noch frisch im Gedächtnis war und auch in der Türkei für heftige antiamerikanische Wallungen sorgte. Überraschend hatte das Parlament in Ankara, zuvor über Jahrzehnte ein treuer Vasall, den Amerikanern die Eröffnung einer zweiten Front gegen den Irak verweigert. Die Autoren Turna und Orkun drehten den Spieß nun um. Sie schilderten, wie US-Truppen aus dem Irak heraus die Türkei angreifen, Istanbul bombardieren und schließlich besetzen. Nur einem türkischen Geheimagenten gelingt es, als Vergeltungsschlag eine Atombombe in der US-Kapitale zu zünden. Amerika liegt in Trümmern, die türkische Nation scheint gerächt.

Sicherlich könnte man Turnas Romane als Fiktion ohne politische Bedeutung abtun. Die Auflage von rund einer halben Million Exemplaren, die "Metallsturm" (neben dem Koran) zum bestverkauften Buch der türkischen Geschichte machte, ist für türkische Verhältnisse zwar astronomisch hoch. Aber auch andere oft martialische Trivialliteratur, vertrieben zu sehr geringen Preisen, liest man am Bosporus, wenn auch mit einem Schmunzeln. Doch Turnas Werke sind anders. Man nimmt sie ernst: beim Militär, in der Politik und den Medien und vor allem beim einfachen türkischen Volk. Dort verstärken sie ein Klima zunehmender Paranoia, verletzten Stolzes und auch alten osmanischen Größenwahns.

Eine Art "inoffizielles kulturelles Barometer" seines Landes stelle Turna dar, urteilte jüngst die International Herald Tribune. Lange hat die westlich orientierte politische Elite den Türken den Beitritt zur EU als Eintritt zu einem Club versprochen, wo Milch und Honig fließen. Jetzt werden die Türken mit der ernüchternden Brüsseler Realität konfrontiert. Sie haben massiv Souveränitätsrechte abzugeben, und Tausende von Gesetzen müssen auf EU-Standard getrimmt werden. Die türkische Nationalseele, die Turna zum Klingen bringt, bäumt sich auf. Sie empfindet die EU-Forderungen als bevormundend und erniedrigend. Besonders schmerzhaft für eingefleischte Nationalisten sind die Zugeständnisse, die in der Kurden- und Armenier-Frage anstehen.

So kühlte die türkische Europa-Begeisterung erstaunlich schnell ab. Nach jüngsten Erhebungen bröckelte die Zustimmungsrate für den EU-Beitritt innerhalb eines Jahres von 94 Prozent auf nur noch 61 Prozent der Bevölkerung. Auch der Beginn der Beitrittsverhandlungen im Oktober brachte nur einen kurzen euphorischen Schub. Denn bei vielen schleicht sich das angstvolle Gefühl ein, daß alle Anstrengungen letzten Endes doch umsonst sein werden. "Die Türken wachen auf und erkennen zwei Tatsachen", meint Turna: "Die eine ist, daß alles, was die EU-Führer dem türkischen Volk erzählen, bloß Lügen sind. Die zweite ist, daß ein muslimisches Land niemals in die EU kommen wird, die uns nicht will."

Der junge Schriftsteller hat nach eigenem Bekunden eintausend Jahre europäischer Geschichte studiert. Europa, das auf einer, so Turna, "rassistischen Nationalstaatsstruktur" aufbaue, werde die Türken unvermeidlich in letzter Sekunde abweisen. Alles Drängen nach Europa sei vergeblich, daher solle sich die Türkei besser dem Osten zuwenden. Ein Freihandelsabkommen mit der EU reiche aus, trommelt Turna bei zahlreichen Vorträgen und Fernsehrunden. Die wahre Zukunft der Türkei liege in politischen Allianzen mit China, Indien und Rußland. "Warum verschwenden unsere Politiker ihre Zeit in den Fluren und Wartezimmern der EU, wenn sie statt dessen diese Länder besuchen und umwerben sollten?"

Zweifellos sind Bücher wie "Der Dritte Weltkrieg" und "Metallsturm" auch Mittel einer privaten psychologischen Kriegsführung. Ihre Botschaft ist klar: Die Türken sind ein stolzes Volk, bereit zu kämpfen. Sollte die EU-Bewerbung scheitern, wird Europa bitter dafür zahlen müssen. Sollte die Bewerbung aber erfolgreich sein, dann säße eine aggressive, komplexbeladene Nation dauerhaft mit am Brüsseler Tisch. Beides sind unschöne Aussichten.

Foto: Türkische und EU-Fahne in Istanbul: Europäische Hauptstadt?


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