© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/05 02. Dezember 2005

Ein Prozeß gegen die eigene Überzeugung
Vor sechzig Jahren mußte der deutsche Weltkriegsverbündete Finnland seinen verehrten Staatspräsidenten Risto Ryti aburteilen
Anni Mursula

Wie in Deutschland und Japan fand auch in Finnland vor sechzig Jahren ein von den Siegern diktierter Nachkriegsprozeß gegen die als Kriegsschuldige Angeklagten statt. Am 15. November 1945 begann auf Verlangen der Sowjets in Helsinki der Prozeß gegen acht Staatsmänner, denen die Verantwortung für Finnlands Eintritt in den Krieg gegen die Sowjetunion zur Last gelegt wurde.

Darunter war auch der ehemaliger Minister- und Staatspräsident Risto Ryti, der das härteste Urteil des Prozesses erhalten sollte. Allerdings gab es in Helsinki anders als in Nürnberg und Tokio keine Todesurteile. Die acht Angeklagten wurden zu Freiheitsstrafen zwischen zwei und zehn Jahren verurteilt. Im Gegensatz zu Deutschland und Japan mußte Finnland seine Staatsmänner selber als Kriegsverbrecher aburteilen. Moralisch bestand jedoch kein Unterschied zu der in den Ruch der Siegerjustiz fallenden Politik der Alliierten in Nürnberg. Auch in Finnland stand die Schuld von Anfang an fest. Dennoch versuchte die Verteidigung die Richter davon zu überzeugen, daß die Angeklagten die einzig mögliche Politik betrieben hatten, um Finnlands Selbständigkeit zu bewahren. Weiterhin sei es Finnland nie um die nationalsozialistische Ideologie gegangen. Nicht weniger als Finnlands Souveränität und Freiheit hätten auf dem Spiel gestanden. Man hatte keinen Angriffs-, sondern einen Verteidigungskrieg geführt, und die Feindseligkeiten gingen nicht von finnischer Seite aus, was während des Krieges auch von neutraler Seite (USA) anerkannt worden war. Bekanntlich war Finnland am 30. November 1939 von der Sowjetunion angegriffen worden, worauf der Winterkrieg folgte.

Der eigentliche Prozeßgrund aber war die Teilnahme Finnlands am deutschen Rußlandfeldzug im Juni 1941. Diesen jedoch sah man in Finnland, wie auch noch heute, als legitimen Fortsetzungskrieg des Winterkrieges an. Finnland hatte im Rußlandfeldzug des Deutschen Reiches die Gelegenheit gesehen, seine im Winterkrieg verlorenen Ostgebiete von den Sowjets zurückzugewinnen, was auch gelang.

Allerdings schloß man kein offizielles Bündnis mit dem Reich, sondern einigte sich auf den weiten Begriff einer Waffenbruderschaft. Im Juni 1944 begann die russische Großoffensive gegen Finnland. Der politischen Führung der Finnen wurde schnell klar, daß man sich nicht lange halten konnte. Es mangelte vor allem an Waffen und Nahrungsmitteln, welche man vom deutschen Waffenbruder zu bekommen hoffte. Der deutsche Außenminister Joachim von Ribbentrop verlangte jedoch für solche Lieferung den Abschluß eines Bündnisses - nicht zuletzt um sicherzugehen, daß die gelieferten Waffen bei einem finnisch-russischen Waffenstillstand nicht gegen die Deutschen eingesetzt würden.

In den darauf folgenden Mittsommerverhandlungen unterschrieb Präsident Ryti den geforderten Bündnisvertrag, welcher als Hitler-Ryti-Pakt bekannt wurde. Bereits wenige Tage später erreichten Finnland die ersten Waffen- und Getreidelieferungen. Dennoch war man sich in Finnland bewußt, daß man so bald wie möglich aus dem Krieg austreten mußte. Der einzige Weg war ein Personalwechsel an der Spitze des Staates. Da das Bündnis mit Deutschland absichtlich ohne die Zustimmung des finnischen Reichstages abgeschlossen wurde, war es, so die Argumentation der Finnen, auch nur an die Person Rytis gekoppelt. Daraus zog er die Konsequenz und trat zurück. Als Präsident folgte ihm der "Marschall von Finnland", Carl-Gustaf Mannerheim, und hob damit die Gültigkeit des Bündnisvertrages auf.

Danach wurden die Waffenstillstandsverhandlungen mit der Sowjetunion eröffnet. Diese verlangte zwar keine bedingungslose Kapitulation, aber den Abbruch der Beziehungen zu Berlin und die Vertreibung der Deutschen Wehrmacht aus Finnland. Am 2. September 1944 endete nach über dreijähriger Dauer die "Waffenbruderschaft" mit folgendem "Lapplandkrieg" bis 1945 gegen Deutschland, das zum Rückzug seiner Truppen aus Nordfinnland gezwungen werden sollte. Zwei Tage später schloß Finnland einen Waffenstillstand mit der Sowjetunion, an welche der Großteil schon 1940 verlorengegangener Teile Kareliens abgetreten werden mußte.

Durch den Gebietsverlust von zwölf Prozent des Landes verloren etwa eine halbe Million Finnen ihre Heimat, was ungefähr zehn Prozent der gesamten finnischen Bevölkerung ausmachte. Der schmerzliche Verlust Kareliens, das mit Viipuri eine der wirtschaftlichen Hauptstädte besaß, ist bis heute nicht ganz überwunden.

Die Verurteilung der acht Staatsmänner erfolgte im Frühjahr 1946 durch ein rückwirkendes Sondergesetz. Dieser Vorgang verstieß - wie der gesamte Prozeß - gegen das Grundkonzept der finnischen Rechtsauffassung und erregte den Widerwillen der Richter ebenso wie der Angeklagten. Genauso wie in Nürnberg wurde der alte Rechtsgrundsatz "Nulla poena sine lege" mißachtet. Dennoch spielten alle Beteiligten ihre Rolle in diesem Prozeß. Sie handelten im Glauben daran, daß ein derartiges Opfer am Rechtsprinzip Teil des Preises war, den Finnland zu zahlen hatte, um die Kontrolle über sein eigenes Handeln zurückzuerhalten. Daher blieb die Ehre der Angeklagten in den Augen des Volkes unangetastet. Sie erhielten nach ihrer Entlassung teilweise wieder hohe Positionen in der Gesellschaft. Während des Prozesses wurden sie nie als Kriegsverbrecher oder -verursacher angesehen. Außerdem wurden ihre Bemühungen um Finnlands Selbständigkeit und Freiheit niemals in Zweifel gezogen.

Trotzdem hätten sich die Angeklagten, nach eigenen Angaben, lieber vor einem fremden oder internationalen Gericht verantwortet. So hatte das ganze Land die Demütigung zu ertragen. Die Finnen mußten nun ihren jahrelangen Kampf um das Überleben als Nation selbst als falsch verurteilen. Als besonders demütigend wurde es empfunden, sich vor den Augen des eigentlichen Angreifers, der feindlichen Siegermacht Sowjetunion, als Kriegsverursacher brandmarken zu müssen.

Risto Ryti begriff, daß der Prozeß und seine Verurteilung der Preis war, den Finnland im nachhinein für die Beibehaltung seiner Souveränität bezahlen mußte. Er wußte, daß das Urteil ein Versöhnungsopfer für Finnlands verlorenen Kampf war. Hätte er anders entschieden, hätte Finnland vor der Sowjetunion kapitulieren müssen. Die eventuellen Folgen hätte man spätestens an den bis 1991 von Moskau okkupierten baltischen Staaten studieren können. Ryti sagte über seine Inhaftierung: "Wenn es sich darum handelt, dem Vaterland zu dienen, ist nicht der Platz, sondern der Wille entscheidend. Das kann ebenso gut im Gefängnis wie im Schloß des Präsidenten geschehen."

Nicht zuletzt für diese Tat wird Ryti heute in Finnland als Held angesehen. Als er 1956 starb, bekam er ein Staatsbegräbnis, und 1994 wurde ihm in Helsinki ein Denkmal gesetzt.

Fotos: Finnische Soldaten im Winterkrieg 1939/40: Nicht weniger als Finnlands Souveränität und Freiheit hätten auf dem Spiel gestanden / Risto Ryti 1938


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