© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/05 02. Dezember 2005

Blick in die Medien
Auf dem Bahnhof
Ronald Gläser

Der Tag der Kanzlerwahl war TV-technisch kein schöner Tag. Von morgens bis abends wurden so spannende Fragen erörtert, wie toll es ist, daß endlich eine Frau vorne steht. Diese Mann-Frau-Geschichte ist inzwischen so zäh wie ein altes Wiener Schnitzel. Trotzdem befragte eine ZDF-Moderatorin schon morgens um sechs auf dem Leipziger Bahnhof Frauen und Männer - was sie davon halten und was sie sich von Angela Merkel wünschen. Die Antworten waren wirklich bemerkenswert: frohe Weihnachten mit meiner Familie, Gesundheit meiner Kinder, einen sicheren Arbeitsplatz. Alles persönliche Wünsche, die Frau Merkel kaum wird erfüllen können. Aber es scheint auch niemand anzunehmen, daß sie irgend etwas erreichen wolle oder könne. Ihr wird nichts zugetraut - und ihrem Franken-steinkabinett gleich gar nicht. Zwei Stunden später stand die Moderatorin immer noch in klirrender Kälte auf dem Leipziger Bahnhof und fragte Passanten nach ihren Hoffnungen hinsichtlich der Kanzlerwahl. Wieder bekam sie belanglose Antworten wie "Ich hoffe, daß mein Mann nach Hause kommt." Es herrscht perspektivloser Stillstand.


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