© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/05 09. Dezember 2005

Politik des gewollten Wegsehens
Volkszählung: Deutschland im demographischen Blindflug / Die Auswirkungen von Einwanderung und Geburtenrückgang können nur "gefühlt" werden
Georg Pfeiffer

Die rhetorischen Reflexe funktionieren noch. Kaum sprechen sich deutsche Politiker für die Teilnahme an der Zensusrunde 2010, also für die Durchführung einer Volkszählung und damit die Rückkehr zur "statistikpolitischen" Normalität aus, melden sich Bedenkenträger wie der Grüne Volker Beck zu Wort und wollen allenfalls eine registergestützte "Volkszählung light" akzeptieren. Dagegen befürworten die sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck und Kurt Beck eine "große Volkszählung".

Das Thema Volkszählung ist etwa so alt wie die älteste staatliche Verwaltung. Schon vor 5.000 Jahren führten die Ägypter Bevölkerungsstatistiken. Aus China ist aus dem Jahre 2.250 v. Chr. die älteste regelrechte Volkszählung überliefert. Auch König David und Kaiser Augustus zählten bekanntlich ihre Völkerschaften.

Die erste Volkszählung der Moderne wurde 1665 in Kanada durchgeführt. Preußen zählte seit 1685 und die Vereinigten Staaten seit 1790. Noch im Jahre 1753 lehnte das englische Parlament eine Volkszählung ab, weil sie "Englands Feinden unsere Schwäche" offenbaren würde. Damit ist wohl ein wesentliches Motiv der Ablehnung von Volkszählungen benannt - die Furcht vor der Wahrheit.

Seit 1987 hat es keine Volkszählung mehr gegeben

Der Deutsche Zollverein zählte alle drei Jahre, das Deutsche Reich alle fünf Jahre - bis 1910. Während des Ersten Weltkriegs und der Weimarer Zeit wurde nicht weniger gezählt, nur weniger regelmäßig: 1917, 1919 und 1925. Der NS-Machterlangung von 1933 folgte eine Volkszählung, dem Kriegsbeginn ging eine solche voraus. Nach 1950 schien die statistische Normalität wiederzukehren.

Seit 1880 gibt es eine internationale Empfehlung, Volkszählungen im Zehnjahresrhythmus durchzuführen. Der Völkerbund hat sie ebenso aufgegriffen wie später die Vereinten Nationen. Dementsprechend fand seit 1950 in beiden Teilen Deutschlands etwa alle zehn Jahre eine Volkszählung statt.

Gegen die für 1983 angesetzte Volkszählung gab es eine massive Kampagne der Grünen, und zahlreiche Verfassungsbeschwerden wurden beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Das setzte die Durchführung mittels einstweiliger Anordnung aus. 1984 erging das berühmte Volkszählungsurteil. Es erklärte die Durchführung der Volkszählung grundsätzlich für verfassungsgemäß, ließ den Fragenkatalog unbeanstandet, entwickelte aber auch das "Recht auf informationelle Selbstbestimmung" und untersagte gerade den Datenabgleich mit den Melderegistern.

Das Verfassungsgericht verlangte außerdem organisatorische und verfahrensrechtliche Vorkehrungen, welche der Gefahr einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts entgegenwirken. Bis zur Durchführung der Volkszählung vergingen noch einmal drei Jahre. Sie fand erst 1987 statt. Damit war die Kontinuität der statistischen Datenerhebung gestört. Noch nie zuvor seit Beginn der regelmäßigen Volkszählungen hatte eine so breite Lücke von 17 Jahren zwischen zwei Erhebungen geklafft. Es war einer der größten politischen Erfolge der damals noch politisch Halbstarken, die inzwischen auch schon ihre Schlußbilanzvorgelegt haben.

Zu dieser Schlußbilanz gehört auch der bislang kaum beachtete Umstand, daß die 17jährige Lücke inzwischen noch übertroffen wurde. Seit der Wiedervereinigung hat es überhaupt noch keine umfassende Datenerhebung gegeben. Das Ergebnis faßte ein Statistiker in die lakonischen Worte: "Wir wissen über die aktuelle Bevölkerungsentwicklung weniger als über die des 19. Jahrhunderts." Auch die rot-grüne Bundesregierung ließ die im Jahre 2000 turnusgemäß fällige Volkszählung ausfallen. Man versuchte, eine andere Methode der Datenerhebung, eben die registergestützte "Volkszählung light", populär zu machen. Zwar werden die Ergebnisse der Bevölkerungsstatistik mit Hilfe eines jährlichen Mikrozensus fortgeschrieben, aber dieses Verfahren ist fehlerbehaftet.

Wie fehlerbehaftet, das zeigt ein Blick auf die Ergebnisse der Volkszählung von 1987. So mußte die Zahl der Erwerbstätigen um eine Million oder 3,8 Prozent nach oben korrigiert werden. Es gab etwa eine Million Wohnungen weniger als vor der Volkszählung angenommen. Die Zahl der Ausländer wurde um fast 600.000 (minus 12,0 Prozent) nach unten korrigiert. In einzelnen Ländern und Kommunen waren die Abweichungen noch erheblich größer. In Berlin lebten 133.000 Menschen mehr, in München 90.000 Menschen weniger, als man vor der Volkszählung gemeint hatte. Infolge der neuen Statistik mußte der Länderfinanzausgleich um 935 Millionen Mark angepaßt werden, der kommunale Finanzausgleich der Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern um etwa 700 Millionen Mark. Das waren die Ergebnisse einer Volkszählung nach 17 Jahren und ohne demographische Sonderfälle, wie sie die Wiedervereinigung und die Einwanderungswelle nach dem Fall des Eisernen Vorhangs darstellen. So fehlt uns heute für die drängenden Probleme der Politik, eben die Demographie und die Einwanderung, eine verläßliche Datengrundlage.

Einwanderung ohne konkrete statistische Erfassung

Zudem ist der Inhalt der bisher bekannten Daten nicht immer verläßlich. Unterschieden wird etwa nach deutscher und ausländischer Bevölkerung. Kriterium ist die Staatsangehörigkeit. Der Migrationshintergrund deutscher Staatsangehöriger wird nicht erfaßt. Das betrifft etwa Spätaussiedler, die zwar sofort die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten, aber gleichwohl teilweise erheblichen Eingliederungsbedarf haben. Es betrifft auch eingebürgerte Ausländer. Wie groß der Eingliederungsbedarf tatsächlich ist, kann nur "gefühlt" werden. Stichhaltige Daten liegen kaum vor.

Ein zuverlässiger Maßstab für den Stand der Eingliederung ist etwa die Zahl von Eheschließungen zwischen Einwohnern mit und ohne Migrationshintergrund. Niemand weiß, wie hoch sie tatsächlich ist. Deutschland dürfte damit das einzige Einwanderungsland sein, daß auf eine exakte statistische Erfassung der Bevölkerungsentwicklung verzichtet. So analysiert das klassische Einwanderungsland schlechthin, die Vereinigten Staaten, seine Bevölkerung überaus detailliert nach Kriterien der ethnischen und regionalen Herkunft. Diese Daten sind unverzichtbare Grundlage der Bevölkerungs- und eben auch der Einwanderungspolitik. Die verantwortungslose Politik des gewollten Wegsehens dürfte damit auch auf diesem wichtigen Feld ein Ende finden.


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