© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/05 01/06 23./30. Dezember 2005

Geschichte ist nicht Moral
Blinde Flecke: Französische Historiker mahnen ein wissenschaftliches Ideal an
Doris Neujahr

In Frankreich haben sich 19 Historiker in einem Manifest "Freiheit für die Geschichte" gegen die gesetzliche Festschreibung und juristische Sanktionierung geschichtlicher Sachverhalte und ihrer Interpretationen verwahrt. Anlaß ist die Neuregelung, an französischen Schulen die "positiven Aspekte" der Kolonialherrschaft hervorzuheben. Der am 13. Dezember in der linksliberalen Zeitung Libération publizierte Appell bezieht sich auch auf französische Gesetze, die den Holocaust, das Massaker an den Armeniern und die Sklaverei betreffen.

Die Kernaussagen lauten: "Die Geschichte ist keine Religion. Der Historiker akzeptiert kein Dogma, respektiert kein Verbot, kennt keine Tabus. Er kann stören. - Die Geschichte ist nicht die Moral. Es ist nicht die Rolle des Historikers, zu preisen und zu verdammen; er erklärt. - Die Geschichte ist nicht die Sklavin der Aktualität. Der Historiker drückt der Vergangenheit nicht die ideologischen Schemata der Gegenwart auf und bringt in die Ereignisse von einst nicht die Sensibilität von heute. - Die Geschichte ist kein Rechtsgegenstand. In einem freien Staat ist es weder Sache des Parlaments noch der Justiz, geschichtliche Wahrheit zu definieren."

Die Sätze beschreiben das Ideal reiner wissenschaftlicher Anschauung, das ein Wissenschaftler zwar nicht erreichen kann, das er aber nie vergessen darf, will er sich nicht an sachfremde Zwecke verlieren. Sie drücken genau das aus, was der Historiker Ernst Nolte für sich stets in Anspruch genommen hat und womit er unter den deutschen Historikern zum "einsamen Wolf" (Horst Möller) geworden ist.

Die Erklärung wurde am 14. Dezember veröffentlicht. Die unmittelbaren Reaktionen im deutschsprachigen Feuilleton waren spärlich. Die Neue Zürcher Zeitung veröffentlichte zwei Tage später einen umfangreichen Artikel, der sich auf die ausführliche Information beschränkte. "Perlentaucher", der Feuilletondienst im Internet, enthielt einen Link zum französischen Originaltext.

Am 17. Dezember erschien im Feuilleton der Berliner Zeitung ein scharfsinniger, engagierter Artikel, der einen Zusammenhang herstellte zwischen dem Manifest und den Äußerungen des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad, der behauptet hatte, die Europäer hätten "einen Mythos geschaffen, daß Juden massakriert wurden, und diesen Mythos stellen sie über Gott, Religionen und Propheten".

Nach einer Verurteilung seiner antisemitischen Intention konnte der Autor in Ahmadinedschads Wahnsinn insoweit einen rationalen Kern erkennen, als "unsere Überzeugungen auch weit stärker sind, was den Holocaust betrifft, als was Jesu Wirken angeht. In diesem Sinne hat die Vergangenheitspolitik tatsächlich Bedeutungen übernommen, die die Religion früher hatte."

Sollte die Beobachtung zutreffen, wäre das ein dringender Grund, möglichen Gefahren einer neuen Inquisition nachzuspüren. Der Blick müßte dann auf Paragraph 130, Abschnitt 3 Strafgesetzbuch (StGB) fallen, in dem es heißt: "Mit Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder Geldstrafe wird bestraft, wer eine unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangene Handlung (...), in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich oder in einer Versammlung billigt, leugnet oder verharmlost."

Womit wir wieder bei dem Aufruf der französischen Historiker wären. Paragraph 130 StGB legt zwar nicht fest, was die geschichtliche Wahrheit ist, sondern kündigt nur Strafen an für den Fall ihrer Mißachtung. Diese scheinbare Großzügigkeit schafft jedoch erst recht ein Klima der Angst, der Einschüchterung, des Eiferer- und Muckertums. Für Wissenschaftler und Journalisten wird es unkalkulierbar, ihre Forschung und Meinungsfindung am Ethos ihrer Berufe auszurichten und die Konfrontation mit der von staatlichen Stellen favorisierten Geschichtsliturgie zu riskieren und auf deren Lücken und blinde Flecke hinzuweisen.

Historiker, die Ereignisse aus der Zeit des Nationalsozialismus nicht nur aus dessen Eigendynamik, sondern auch in einem zeitlich und räumlich größeren Kontext erklären ("rationalisieren"), müssen sich fragen, ob sie nicht den Eindruck erwecken, diese zu "billigen".

Gerade wird die Existenz eines britischen Folterlagers in Norddeutschland vermeldet, wo zwischen 1945 und 1947 deutsche Gefangene gequält wurden (siehe hierzu auch den Kommentar auf Seite 2 dieser Ausgabe).

Historiker, die nachforschen wollten, ob und wieweit durch Folter erpreßte Aussagen in das Geschichtsbild eingegangen sind, könnten sich der Vorbereitung zur "Leugnung" von NS-Verbrechen verdächtig machen. Und wer bestreitet, daß die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten eine direkte Folge des Holocausts sei, könnte diesen bereits "verharmlosen".

Das ist die Stunde der Nachrangigen. Für qualifizierte Historiker war es demütigend zu erleben, daß Figuren wie Rosh, Goldhagen oder Heer jahrelang die geschichtspolitischen Debatten dominierten. Es war die Demütigung des Geistigen überhaupt.

Das Beispiel Frankreichs zeigt, das ein Land nicht notwendigerweise eine totalitäre Vergangenheit haben muß, um in diesen regressiven Zustand zu geraten. Zukünftige Historiker werden darin vielleicht einmal ein neuartiges Phänomen erkennen, das demokratische Länder produzieren, wenn sie in die Phase des allgemeinen Abstiegs eintreten. 

Foto: Holocaust-Mahnmal in Berlin-Mitte: Klima der Angst, der Einschüchterung, des Eiferer- und Muckertums


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