© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/06 06. Januar 2006

Ein Schnapsfabrikant predigt die Abstinenz
Lafontaines politische Einsichten aus dem Buch "Politik für alle" scheinen in seiner neuen PDS-Position nur "Geschwätz von gestern" zu sein
Klaus Motschmann

Das Verständnis für manche politischen Entscheidungen unserer Zeit erschließt sich aus der Erinnerung an eine bedenkenswerte Sentenz Friedrich Nietzsches: "Denn so ist der Mensch: ein Glaubenssatz könnte ihm tausendfach widerlegt sein - gesetzt, er hätte ihn nötig, so würde er ihn auch immer wieder für 'wahr' halten." Ein aktuelles Beispiel für diese zeitlose Aussage liefert Oskar Lafontaine mit seiner letzten "Streitschrift". Sie gestattet einen aufschlußreichen Einblick in die Gedankenwelt eines maßgebenden deutschen Sozialisten - 16 Jahre nach dem Zusammenbruch des realsozialistischen Systems in der DDR und sieben Jahre nach dem realexistierenden demokratischen Sozialismus in der Regierungsverantwortung, an der Lafontaine bekanntlich für kurze Zeit mitgewirkt hat.

Man wird von einer politischen Streitschrift Oskar Lafontaines keine wissenschaftlich aufgefeilte, exakte Analyse unserer Zeit erwarten. Daran mangelt es in Deutschland bekanntlich nicht, vielmehr daran, einige Selbstverständlichkeiten und Erfahrungen der politischen Wirklichkeit in der politischen Diskussion zu beachten und sich damit um konkrete Antworten auf konkrete Fragen konkreter Menschen zu bemühen. Das tut Lafontaine - ohne Rücksicht auf die Anmaßungen politisierender Intellektuellenzirkel, die auf derartige Abweichungen von den verordneten Klischees politischer Streitkultur mit der Populismuskeule reagieren.

Insofern können auch konservative Leser Lafontaines Streitschrift über weite Strecken, wenn schon nicht mit Zustimmung, so doch mit Interesse und zur Bestätigung eigener Überzeugungen lesen. Aus der Fülle von Äußerungen zu den wichtigsten Themen unserer Zeit nur einige Beispiele. So bemerkt Lafontaine - zur Nation: "Der Nationalstaat wird auch in Zukunft eine Rolle spielen."

- zur Zuwanderungspolitik: "In einem Land mit hoher Arbeitslosigkeit ist es fahrlässig und töricht, eine weitere Zuwanderung zu fördern."

- zur Integrationspolitik (am warnenden Beispiel Frankreich): "Die Integration der mehr als vier Millionen Moslems ist total gescheitert."

- zur Globalisierung, "einer faulen Ausrede" für eigene Versäumnisse: "Nirgendwo auf der Welt werden die Irrlehren des Neoliberalismus so energisch und konsequent vertreten wie in Deutschland, immer mit dem Hinweis auf die Probleme, die die Globalisierung mit sich bringen würde."

- zur Wirtschaftspolitik: "Die fünf Millionen Arbeitslosen und jene Millionen von Menschen, die Angst um ihren Arbeitsplatz haben, verstehen solche Ratschläge unserer Eliten schon lange nicht mehr."

Es wäre billige Polemik, wollte man auf zahlreiche deutliche Widersprüche zu früheren Aussagen Lafontaines hinweisen, um damit seine Glaubwürdigkeit zu bezweifeln. Man sollte seine Aussagen, die er reichlich spät mitteilt und vorher höchstens in seinen Bild-Kolumnen andeutete, vielmehr als einen neuen Beweis für die alte konservative Überzeugung verstehen, daß alle ideologischen Systeme und Irrtümer am gründlichsten durch die Wirklichkeit widerlegt werden - nicht nur der Neoliberalismus, wie Lafontaine im Schlußabsatz seines Buches richtig feststellt, sondern auch der Sozialismus in allen Spielarten, vor allem in der PDS, die nicht nur in der Zuwanderungspolitik eine diametral andere Programmatik offenbaren.

Zu dieser Erkenntnis ist Lafontaine offensichtlich noch nicht vorgedrungen, denn sonst hätte er sich nicht nach Drucklegung dieses Buches in das Bündnis mit der PDS begeben, um seine politischen Ziele auf diesem (Irr-)Weg zu erreichen. Es ist so, als würde man eine Antialkohol-Kampagne im Bunde mit Schnapsfabrikanten starten. Es bleibt aber die Hoffnung, daß Lafontaine möglicherweise auch in dieser Hinsicht durch die Wirklichkeit zu einer realistischen Einschätzung der Wege zum Ziel einer gerechten Gesellschaft gelangt.

Oskar Lafontaine: Politik für alle. Streitschrift für eine gerechte Gesellschaft. Econ-Verlag, Berlin 2005, 303 Seiten, geb., 19,95 Euro


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