© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/06 13. Januar 2006

Weniger Staat, mehr Markt
Sozialpolitik: Weitreichende Reform des niederländischen Gesundheitswesen / Vorbildfunktion für Deutschland möglich
Jerker Spits

Einer der Knackpunkte der schwarz-roten Bundesregierung ist die Gesundheitspolitik. Hier stehen sich vor allem CDU und SPD wie zu Wahlkampfzeiten unversöhnlich gegenüber: Die CDU hält an ihrem Modell einer einheitlichen, einkommensunabhängigen Kopfpauschale für alle ("solidarische Gesundheitsprämie") fest.

Die SPD will die derzeitige Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) zu einer "Bürgerversicherung" umbauen - in der auch bislang nicht erfaßte Gruppen (Beamte, "Besserverdienende", Selbständige, Politiker) "zwangsversichert" werden. Dennoch soll eine gemeinsame Gesundheitsreform ausgehandelt werden. Einige Gesundheitspolitiker der Großen Koalition verwiesen dabei kürzlich als Kompromiß auf das "niederländische Modell".

Kopfpauschale mit staatlicher Regulierung der Versicherer

Die Haager Regierung aus Christdemokraten (CDA), Rechtsliberalen (VVD) und Linksliberalen (D'66) hat nämlich letztes Jahr ein neues Sozialversicherungsgesetz beschlossen, das nun seit dem 1. Januar in Kraft ist. Ziel von Gesundheitsminister Hans Hoogervorst (VVD) war eine weitgehende Liberalisierung der Gesundheitsfürsorge - allerdings mit staatlicher Regulierung und sozialer Abfederung.

Die Rolle des Staats soll aber zurückgedrängt, dem Bürger mehr Verantwortung übertragen werden. Die Neuregelung soll zu einer höheren Qualität, mehr Effizienz, einen besseren Kundendienst und weniger Bürokratie führen. Ab 2006 müssen alle niederländischen Bürger eine gleichartige Standardversicherung (Basisverzekering) abschließen.

Um die Gunst der Kunden konkurrieren die verschiedenen Versicherungsanbieter miteinander. Deren Finanzierung basiert auf zwei Säulen: erstens einer Kopfpauschale für jeden Versicherten von anfangs jährlich etwa 1.100 Euro. Beim gleichen Versicherer muß dieser Beitrag für alle gleich sein.

Dabei ist gesetzlich festgelegt, daß die Versicherer jeden Bürger - ungeachtet seines Alters oder seines Gesundheitszustands - als Kunde akzeptieren müssen (Kontrahierungszwang). Geringverdiener unter 25.000 Euro (Familien: 40.000 Euro) erhalten einen einkommensabhängigen "Versorgungszuschlag". Niemand werde durchs soziale Netz fallen, versprach Hoogervorst in seiner Neujahrsansprache. "Amerikanische Verhältnisse" seien daher nicht zu befürchten. Jeder könne sich die neue Versicherung leisten.

Die zweite Säule ist eine lohnabhängige Komponente von 6,5 Prozent (maximal 1.950 Euro jährlich), die von den Unternehmen zu entrichten ist. Selbständige sollen 4,4 Prozent ihres Einkommens dazusteuern. Die Frage "Kassen- oder Privatpatient" wird sich in den Niederlanden so nicht mehr stellen.

Der Umfang der niederländischen "Standardversicherung" ist allerdings teilweise geringer als der Leistungskatalog der deutschen GKV. Für Zahnbehandlungen und Zahnersatz, physiotherapeutische Behandlungen und Brillen, aber auch für bestimmte Operationen müssen bei privaten Versicherern Zusatzverträge abgeschlossen werden.

Hier wirken dann die Marktgesetze: Alte und Personen mit Vorerkrankungen zahlen erheblich mehr (Risikozuschlag) - oder werden gar nicht versichert. In diesen freiwilligen privaten Zusatzversicherungen wittern die Assekuranzen derzeit das große Geschäft. Die Niederländer werden zwischen etwa dreißig Anbietern auswählen können. Fraglich ist aber, ob jeder Bürger imstande sein wird, die komplexen Möglichkeiten zu verstehen und miteinander zu vergleichen.

Zeit der einheitlichen Vergütungssätze ist vorbei

Mit etwa 40 Milliarden Euro liegen die Kosten des niederländischen Gesundheitswesens bei ungefähr zehn Prozent der Wirtschaftsleistung. Sie liegen damit rund 1,5 Prozentpunkte höher als der Durchschnitt der westlichen Industrieländer, aber etwas niedriger als in Deutschland. Die strukturelle Veränderung des Gesundheitssystems wird vor allem von der linken Opposition als eine gefährliche Entwicklung betrachtet.

Die oppositionelle Sozialistische Partei (SP) hatte sogar eine "Aktion Notbremse" gestartet, um die Reform zu verhindern. Denn die bisherigen Erfahrungen mit mehr Eigenverantwortung im Gesundheitswesen waren zwiespältig. Als der niederländische Staat vor Jahren die Zahnarztbehandlungen aus dem Leistungskatalog nahm, war beispielsweise ein Rückgang der Inanspruchnahme bei Bürgern mit geringerem Einkommen festzustellen.

Doch auch Wirtschaftsexperten sind skeptisch. Sie weisen darauf hin, daß die Wahlfreiheit zwischen den Versicherungsträgern zwar öfter genutzt werde, der Anteil insgesamt jedoch gering bleibe. Der Trend zu größeren Gemeinschaftspraxen könne die Freiheit bei der Arztwahl einschränken. Denn die Kassen können nun separate Verträge mit einzelnen Ärzten und Krankenhäusern abschließen. Die Zeit der einheitlichen Vergütungssätze ist vorbei.

Auch läßt sich nur schwer feststellen, ob ein Kassenwechsel wohlerwogen aufgrund des Wissens um Preise und Qualität geschieht. Ein regulierter Wettbewerb führt nicht zwangsläufig dazu, daß Kosten eingespart werden. Minister Hoogervorst will mit dem neuen Modell daher nicht nur die Kostenexplosion im Gesundheitswesen zurückdrängen. Es soll die Gesundheitsfürsorge auch solidarischer gestalten: "Vor allem für alte Menschen und chronisch Kranke wird es gerechter", meint der Gesundheitsminister.

Die niederländische Regierung hat versucht, ihre Bürger vor allem übers Internet umfassend zu informieren. Die Versicherungsgesellschaften haben ihre Kunden bis Dezember über ihre neuen Angebote in Kenntnis gesetzt. Wer dies ablehnt, hat noch bis zum 1. Mai 2006 Zeit, sich für einen anderen Anbieter zu entscheiden. Das niederländische Kopfpauschalen-System soll nun zu mehr Effizienz im Gesundheitssystem führen. Billiger wird es keineswegs, denn der medizinische Fortschritt ist teuer und muß finanziert werden.

Das Beispiel der kontinuierlich steigenden Kopfpauschalen in der Schweiz zeigt, daß mittlere und hohe Einkommen bei den Beiträgen zwar zunächst entlastet wurden. Doch immer mehr Niedrigverdiener haben nun Anspruch auf Sozialzuschläge - aus Steuermitteln.


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