© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/06 13. Januar 2006

Pankraz,
T. Dalrymple und der Hut aus der Saville Row

Völlig ernst gemeint war kürzlich ein Beitrag von Theodor Dalrymple im Londoner Spectator über die Jugendunruhen allenthalben, den Rabatz in den französischen Vorstädten, die sich scheinbar unaufhaltsam ausbreitende Unhöflichkeit und Ungehobeltheit. Alle diese Gebresten, so Dalrymple, hätten nur eine einzige, allerdings gravierende Ursache: nämlich daß die Leute keine Hüte mehr trügen, nicht einmal im Winter, nur noch Mützen, Kappen, Kapuzen, wenn überhaupt etwas. Das Verschwinden der Hüte sei gleichbedeutend mit dem Verschwinden der Zivilisation.

Leider war Dalrymple in dem Aufsatz zu zornig, um des vollen Gewichts seiner These gewahr zu werden. Ist nicht gerade die "Enthütung" die Mutter aller Zivilisation? Sagt nicht schon das Sprichwort: "Mit dem Hute in der Hand" (also ohne Hut auf dem Kopf) / Kommst du durch das ganze Land"? Heißt es nicht im großen Zapfenstreich: "Helm ab zum Gebet"? Wahre Höflichkeit vor Gott und den Menschen zeigte sich immer, indem man den Hut abnahm. Bei den Kriegsleuten fuhr die Hand zwar meistens nur noch knapp grüßend an Hut/Helm/Mütze, doch selbst das war symbolische Hutabnahme, verletzte den Komment nicht, bestätigte ihn im Gegenteil.

Nun kann man allerdings sagen (und auch Dalrymple sagt es), daß den Hut nur abnehmen kann, wer einen hat. Der Hut, im Gegensatz zur bloßen Mütze ein mehr oder weniger steifes, formal festgelegtes Gebilde, war von Anfang an und bei allen Völkern Ausweis des freien Mannes, ein Rangabzeichen, und daß man ihn beim Grüßen abnahm oder "lüftete", war eine freiwillig dargebrachte Ehrbezeugung dem anderen gegenüber. Indem man so den anderen ehrte, ehrte man nicht zuletzt sich selbst.

Außerdem gab es nicht nur rituelles Hutabnehmen, sondern auch rituelles Hutaufsetzen, speziell bei feierlichen und wichtigen Staatsangelegenheiten, zum Beispiel Gerichtsprozessen. Diese Zeremonie ist ja sogar heute noch im Schwange; der Richter setzt sich seinen Richterhut ausdrücklich auf, wenn er sich erhebt und das Urteil verkündet. Er demonstriert damit, daß er in solchem Augenblick mehr ist als ein einzelner, und sei es noch herausgehobener, Mensch, daß das Gesetz selbst von ihm Besitz ergriffen hat und sein Spruch allgemeine und quasi göttliche Kraft besitzt.

"Hut" hat etymologisch etwas mit Haupt, englisch head, zu tun, es ist dasselbe Wort wie für Kopf. Auch der französische chapeau weist diese Abkunft auf, er leitet sich von caput ab, der lateinischen Vokabel für Kopf. Im Deutschen tritt noch die schöne, gewiß nicht zufällige Synonymität mit der Behütetheit hinzu: "die" Hut, unter der man sich sicher und beschützt fühlen darf. Unterm Strich gilt: Der Hut, ob nun Zwei- oder Dreispitz, Zylinder, Melone, Homburg oder Sombrero, hat sprachlich allerfeinste Ahnen, ein Pedigree, das mit dem der berühmtesten Fürsten- oder Adelsgeschlechter konkurrieren kann.

Entsprechend angesehen waren jahrhundertelang die Hutmacher, eine privilegierte Gilde, deren Kreationen stets in engstem Kontakt mit den oberen Gesellschaftsschichten ausgedacht und hergestellt wurden. Beileibe nicht jeder durfte jeden Hut tragen, es gab fein abgestufte Hierarchien, und es gab Hüte für diese und jene Gelegenheit.

Ein Kapitel für sich war der Hutschmuck: Kokarden, Federn, Bänder, Pelzbesätze, Gamsbärte. Alle diese Accessoires bedeuteten etwas und sorgten für weitere, fast unübersehbare Differenzierung.

Frauen blieben lange weitgehend vom Hütetragen ausgeschlossen, mußten, wenn sie nicht gerade Kaiserwitwen oder hohe Äbtissinnen waren, mit weichen, formlosen Kappen vorliebnehmen. Erst mit beginnender Neuzeit änderte sich das allmählich - um dann im neunzehnten Jahrhundert, zur Zeit der beginnenden Frauenbewegung und der Suffragetten, geradezu ins krasse Gegenteil umzuschlagen.

Es gab damals eine förmliche Explosion des weiblichen Hutwesens. Phantastische Gebilde von phantastischen Dimensionen entstanden, die freilich kaum noch soziale Botschaften transportierten außer der, daß ihre Trägerinnen reich waren und es sich "leisten" konnten.

Die Epoche der Hüte neigte sich dem Ende zu. Die seit der Romantik und dem Biedermeier aufgekommenen "Angströhren", hohe, seidene Zylinder mit schmaler Krempe, erwischte es als erste. Waren sie während der Barrikadenkämpfe von 1848 sogar von den wildesten Revolutionären im vollen Kampfgetümmel getragen worden, so zogen sie sich danach schnell auf einige wenige offiziöse Anlässe zurück, wirkten von Jahr zu Jahr sinnloser und gaben schließlich nur noch Anlaß für Witze und Karikaturen.

Der Einheitshut der Endphase ist ein unauffälliges, in der Form unentschiedenes, maßvoll stromlinienförmiges Filz-Ding von gedeckter Farbe mit umlaufendem Band unmittelbar über der Krempe als einzigem Schmuck. Der wahre gentleman kauft es sich für teures Geld in London in der Saville Row und kann damit bei Eingeweihten noch einigen Eindruck machen. Doch ein stolzes Rangabzeichen ist es nicht mehr. Und auch der "Hut aus der Saville Row" steht leider faktisch auf der Aussterbeliste.

Die Gegenwart ist hutlos, da hat Theodor Dalrymple recht. Unrecht hat er, wenn er behauptet, die Hutlosigkeit sei die Ursache der allgemeinen Misere. Es verhält sich genau umgekehrt: Die allgemeine Misere ist die Ursache für die Hutlosigkeit. Wer allen Ernstes schreibt, wir müßten uns alle nur wieder einen Hut aufsetzen, um flächendeckend zur Vernunft zu kommen, der sollte sich schleunigst in einem Kurs für Logik und gesunden Menschenverstand anmelden.

Der Hut galt in alten Zeiten als eine Art Überkopf, als Zeichen dafür, daß sein Träger alle Tassen im Schrank hatte. Wenn die Tassen fehlen, nützt auch der schönste Hut nichts.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen