© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/06 13. Januar 2006

Als Gott uns immer ferner wurde
Auf dem Weg zur Renaissance: Eine Ausstellung in Berlin zeigt spätmittelalterliche italienische Malerei
Jean-Marie Dumont

Zu ihrem 175jährigen Jubiläum zeigt die Berliner Gemäldegale rie eine Ausstellung über die italienische Kunst des späten Mittelalters. Sie versammelt etwa fünfzig religiöse Werke berühmter Maler des 14., 15. und 16. Jahrhunderts wie Fra Angelico, Ghirlandaio oder Filippo Lippi. Auch weniger bekannte italienische Künstler wie Francesco Morone, Pietro di Giovanni d'Ambrogio oder Giovanni del Biondo sind vertreten.

Im Zentrum steht ein riesiges Hochaltarretabel, das eigens für diese Ausstellung rekonstruiert wurde. 1325 von dem Sieneser Maler Ugolino di Nerio für die Franziskanerkirche Santa Croce geschaffen, befand es sich in einer der wichtigsten Florentiner Kirchen.

Altarwerke des späten Mittelalters bestanden aus einer Vielzahl einzelner Tafeln. Altartafeln und Flügelaltäre ruhten auf einer Predella, einem mit Bildfeldern dekorierten Sockel, der den idealen Ort für kleinformatige Bilder wie etwa Szenen aus dem Leben Christi oder der Heiligen darstellte.

Das Altarwerk umgibt eine wunderschöne, nach der Form eines Kirchenschiffs ausgerichtete Auswahl solcher Predellen mit klassischen, aus dem Evangelium stammenden Motiven wie "Vision der Geburt Christi mit Verkündigung an die Hirten" (Mattino di Bartolomeo), "Die Berufung des Petrus und des Andreas zu Aposteln" (Lorenzo Veneziano) oder "Beweinungen Christi" sind ausgewählt worden.

Manche Werke berufen sich auf die "Legenda aurea" des Dominikanermönchs Jacobus de Voragine, andere auf apokryphe Evangelien. Sie erzählen oft unbekannte Geschichten von Wundern, Martyrern und Heiligen - als besonders bemerkenswert muß "Der Heilige Nikolaus bewahrt durch eine Goldschenkung drei Jungfrauen vor der Prostitution von Masaccio" (1426) erwähnt werden.

Passende Zitate unterstützen das Verständnis der Bilder. Statt langer, nur für Experten verständlicher Erklärungen stehen unter jedem Werk die Textquellen, auf die sich die Künstler berufen haben, zum Beispiel die Rede des römischen Präfekten Olybrius an die heilige Margarete unter einer Tafel von Benedetto di Bindo (1370-1417): "Die beiden ersten Dinge stehen dir wohl an: daß du edel bist und dem Steine Margarita gleichest an Schönheit, das dritte aber ist nicht ziemlich, daß eine so schöne Jungfrau einen gekreuzigtsten Gott habe".

Die Predellen waren auch Experimentierfeld für künstlerische Innovationen. Die Ausstellung hebt auf diese Weise die progressive Entwicklung der spätmittelalterlichen religiösen Kunst deutlich hervor: Einführung der Perspektive, Änderung der Farben, progressives Einführen der profanen Welt - auch wenn diese der religiösen noch vollkommen integriert bleibt.

Die Zentralperspektive fand erstmals im Quattrocento Anwendung und wurde wahrscheinlich von dem Florentiner Künstler und Baumeister Filippo Brunelleschi (1377-1446) entdeckt. Das Protobeispiel eines Bildes mit einheitlicher Zentralperspektive ist das 1427 von Masaccio gestaltete Dreifaltigkeitsfresko in Santa Maria Novella in Florenz. Die Technik der Perspektive besteht aus einem Perspektivitätzentrum, bei dem sich alle in die Tiefe laufenden Geraden auf einen Fluchtpunkt beziehen, der den Gegenstandpunkt zum Betrachter bildet.

In der Kunstgeschichte stellt die Einführung der Perspektive eine symbolische Revolution dar: Nicht mehr die transzendente Welt, sondern der Mensch wird das Zentrum der künstlerischen Arbeit. Einfache Farben werden durch luftige Landschaften und moderne städtische Architekturen, der Goldgrund durch einen strahlend blauen Himmel ersetzt.

Alle diese Entwicklungen, die als erste Schritte auf dem Weg zur Renaissance und Moderne verstanden werden können, kamen auf diesen kleineren Bildfeldern am Sockel der Altäre zum Ausdruck, während die Haupttafeln der Altarbilder noch lange mit statuarischen Heiligen geschmückt bleiben.

Die Ausstellung "Geschichten auf Gold. Bilderzählungen in der italienischen Malerei" ist bis zum 26. Februar in der Gemäldegalerie Kulturforum Potsdamer Platz täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, Do. bis 22 Uhr, zu sehen.

Giovanni de Paolo, "Errettung von Schiffbrüchigen durch die hl. Klara" (Detail, um 1455) Foto: Ausstellung


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