© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/06 13. Januar 2006

Verfallsstudien aus Deutschland
Günter Rohrmoser analysiert das Werk Thomas Manns in seiner Eigenschaft als "Diagnostiker des deutschen Bürgertums"
Friedrich Romig

Thomas Mann ist wohl der einzige "Großschriftsteller", der sein Gesamtwerk einem einzigen Thema widmet, dem Verfall und Untergang der deutschen Kultur und Gesellschaft, die er vorhersah, geistig miterlebte und bis ins Physische hinein miterlitt. Bereits in jungen Jahren, seinen frühen "Twens", gelang ihm der künstlerische Durchbruch mit dem Familienroman "Die Buddenbrooks".

Wer diesen 1901 erschienenen Roman heute liest, dem läuft es kalt über den Rücken. In Aufstieg und Fall der Buddenbrooks spiegelt sich das fast seherisch das Schicksal der Deutschen im zwanzigsten Jahrhundert. Die Hauptfigur, das Oberhaupt der Familie, bringt es zum hochangesehenen Mitglied und Vorsitz des Rates seiner heimatlichen Hansestadt, doch das von ihm geführte Handelskontor ist der anpassungsfähigeren Konkurrenz nicht gewachsen, es verliert seinen Ruf zuletzt durch gewagte Spekulationen auf Ernten, die nicht eingebracht werden, das Herrenhaus muß verkauft werden, der musikalisch begabte Sohn stirbt früh, die Ehe wird getrennt, und der heruntergekommene Konsul endet nach einer infektiösen Zahnbehandlung durch einen ärztlichen Pfuscher und Alkoholiker schließlich im schmutzigen Unrat der Gosse. Das Schicksal eines deutschen Bürgers wird in der Retrospektive zum Schicksal der Deutschen. "Alles drängt und stürzt dem Ende entgegen, in Endes Zeichen steht die Welt, - steht darin wenigstens für uns Deutsche, deren tausendjährige Geschichte, widerlegt, ad absurdum geführt, als unselig verfehlt, als Irrweg erwiesen durch dieses Ergebnis, ins Nichts, in die Verzweiflung, in einen Bankrott ohne Beispiel, in eine von donnernden Flammen umtanzte Höllenfahrt mündet", schreibt Thomas Mann ein halbes Jahrhundert später im "Doktor Faustus", dem von einem Freunde erzählten Leben des Tonsetzers Adrian Leverkühn. Hier, wie im "Zauberberg" werden die Gründe für das Ende des Deutschen in einer unüberbietbaren Weise ausgeleuchtet, und es ist Günter Rohrmoser zu verdanken, daß er in der wohl tiefsten Krise unserer Zeit unseren Blick auf diese beiden Schlüsselwerke richtet.

Was für Rohrmoser das Werk von Thomas Mann auszeichnet, ist nicht allein die künstlerische Form, sondern das tiefe Eindringen in die theologisch-religiösen, philosophisch-weltanschaulichen, künstlerisch-musikalischen, medizinisch-biologischen, psychologischen und politischen Strömungen, die das ganze 20. und auch noch das 21. Jahrhundert so unheilvoll bewegten und nicht nur uns Deutsche und die Juden, sondern die ganze Welt an den Rand der Katastrophe gebracht haben. Den Grund und die Genesis dieser Kulturkatastrophe sieht Günter Rohrmoser zusammen mit Thomas Mann "in der Emanzipation von der Religion", durch die noch "jede Kultur (...) in der Sterilität endet, von der Dekadenz überwältigt wird, oder zerstörerische Mächte freisetzt, durch die sie dann vernichtet wird". Hitler und seine verbrecherische Form des Faschismus mögen als die Vollstrecker des deutschen Schicksals in die Geschichte eingehen, zerstören konnten sie nur, was innerlich bereits tot war: "Die bürgerliche Kultur selbst ist der Herd, die Keim- und die Quellstätte, aus der die Zerstörung und die zerstörenden Kräfte und Mächte gekommen sind."

Ob die Deutschen noch zu retten sind? Jedenfalls nach Meinung von Thomas Mann und Günter Rohrmoser nicht mit dem ständigen Bekenntnis seiner Treue zu Humanität, Menschenwürde, Menschenrechten, Demokratie, Liberalismus und Marktwirtschaft. Ähnlich wie Dr. Faustus werden sie ihr Taufversprechen zu erneuern und mit ihm ernstzumachen haben. Der Teufel ist, laut Rohrmoser die zentrale Figur in Thomas Manns Romanen. Ohne die Aufkündigung des Pakts mit ihm gibt es keine Rettung.

Günter Rohrmoser: Dekadenz und Apokalypse. Thomas Mann als Diagnostiker des deutschen Bürgertums. Verlag Gesellschaft für Kulturwissenschaften, Bietigheim/Baden 2005, 243 Seiten, broschiert, 18 Euro

Günter Rohrmoser Foto: picture-alliance / ZB


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