© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/06 20. Januar 2006

Zeitschriftenkritik: Scheidewege
Zeit zum Denken
Werner Olles

Seit ihrem ersten Erscheinen im Jahr 1971 haben die Scheidewege - zunächst als Vierteljahresschrift, seit 1983 als "Jahresschrift für skeptisches Denken" - sich darum bemüht, der ökologischen Bewegung ein philosophisches Fundament zu verschaffen. Dabei ist die von der Max Himmelheber-Stiftung herausgegebene Schrift ihrem Anspruch, überkommene Denkweisen wie Fortschrittsgläubigkeit gleichermaßen auf den Prüfstand zu stellen, immer gerecht geblieben. In die bloße Tradition zu retirieren, scheint ihr ebenso aussichtslos wie die Hoffnung, daß dem "Fortschritt" ein zweckmäßiger Mechanismus der Selbstregulierung und Mäßigung innewohne, der die technologische und ökonomistische Raserei bändigen und letztlich noch alles zum Guten wenden werde.

Die aktuelle Ausgabe ist Ende vorigen Jahres als Heft 35, Jahrgang 2005/2006 erschienen, und wiederum spart die Vielfalt der Themen vom Essay bis zur Polemik, von der Beschreibung bis zur Mahnung, von der Rezension über das Bekenntnis bis zur Meditation kaum einen Bereich aus. So schildert Marion Passarge in ihrem Aufsatz "Von der Unmöglichkeit eine Schildkröte spazierenzuführen. Überlegungen zu den Tücken des Ruhestands" die gespaltene Lebenswirklichkeit des modernen Menschen: "Arbeit und Freizeit stehen einander konträr gegenüber und bilden gleichzeitig eine untrennbare Einheit." Adorno und Horkheimer hatten dies in ihrer "Dialektik der Aufklärung" ähnlich beschrieben, indem sie Amüsement lediglich als "Verlängerung der Arbeit" und "automatisierte Abfolge genormter Verrichtungen" verstanden. Wenn also pubertierende Spaß-Greisinnen, alterlose Lifestylisten, altkluge Frühdebile und junggebliebene Altsenioren endlich genügend Zeit haben, "tatendurstig die Stadttopographie zu durchforschen", ist mehr Vorsicht als Euphorie angebracht. Sie haben nämlich jetzt auch genug Zeit zum Denken, und mit dem Denken kommt in aller Regel auch die Angst.

In seiner ausgezeichneten Polemik "Sexualität - Ehe - Familie" wendet sich Joachim Kahl "gegen den modischen Irrtum einer Gleichwertigkeit aller Lebensformen". Als typisch rot-grüne Quatschparole entlarvt er dabei die ehemals regierungsamtliche These "Familie ist überall dort, wo Kinder sind". Kinder seien schließlich auch im Kindergarten, in der Schule, im Schulbus oder im Sportverein. Tatsächlich sei Familie nur dort, wo Kinder mit ihren Eltern sind. Das "naturhafte Element der Blutsverwandschaft, begründet durch Elternschaft" hebe sich als Kerneinsicht der Soziobiologie bewußt von eher zufälligen und beliebigen Freundeskreisen, Wohngemeinschaften und freien Liebesbeziehungen ab. Ehe und Familie sind demnach keineswegs Auslaufmodelle eines untergehenden Zeitalters - wie uns bindungsschwache Schwarmgeister weismachen wollen -, sondern unverzichtbare Leitbilder für das Zusammenleben der Geschlechter und Generationen: "Das familienungebundene Marktsubjekt ist kein frohstimmendes und vernünftiges Leitbild, sondern ein Alptraum." Zudem entspreche allein die Einehe der Gleichrangigkeit von Mann und Frau und ihrer gleichen Würde - im Gegensatz zu Polygamie und Bigamie.

Anschrift: Hirzel Verlag. Birkenwaldstr. 44, 70191 Stuttgart. Das Einzelheft kostet 23,50 Euro, im Abo 19,50 Euro. Internet: www.scheidewege.de


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen