© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/06 27. Januar 2006

"Ja, Berichte über Gespräche stammen von mir"
Ungarn: Der österreichische Journalist Paul Lendvai löst neue Stasi-Debatte aus / Prominente bespitzelten Kollegen im Westen
Ivan Denes / Jörg Fischer

In ihm schrieben Stefan Zweig und Benito Mussolini, Franz von Papen und Leo Trotzki. Der spätere Bundesminister Ernst Lemmer war von 1937 bis 1944 der Deutschlandkorrespondent. Jüdische Redakteure bekleideten bis 1944 leitende Funktionen - obwohl Ungarn Verbündeter des Deutschen Reiches war. Die 1853 gegründete deutschsprachige Budapester Zeitung Pester Lloyd war eine Institution. Am 1. April 1945 erschien die letzte Ausgabe - kriegsbedingt in Ödenburg (Sopron).

1994 wurde der Pester Lloyd als linksliberale deutschsprachige Wochenzeitung wiederbelebt - mit einer Auflage von 15.000 bis 20.000 Exemplaren. Und obwohl der Pester Lloyd während der kommunistischen Herrschaft nicht existierte, wurde das Blatt jetzt von der Vergangenheit eingeholt. András Heltai-Hopp, Vizechef und Ressortleiter Politik, hat als IM "Herczeg" Berichte für die ungarische "Stasi" (Államvédelmi Hatóság/ÁVH) geschrieben.

Öffentlich wurde das Ganze durch einen Beitrag des ORF-Journalisten Paul Lendvai in der Budapester Wochenzeitung Élet és Irodalomi ("Leben und Literatur"), den er nach Einsicht in seine umfangreichen ÁVH-Akten verfaßte. Und Lendvai ist nicht nur in Österreich prominent, er gilt als einer der kenntnisreichsten Experten in Fragen Mittel- und Osteuropas. Er ist Autor zahlreicher Bücher zum Thema. Geboren 1929 als Sohn jüdischer Eltern in Budapest, wurde er als Fünfzehnjähriger unter der Szálasi- Regierung verschleppt. Ihm gelang schließlich die Flucht in die Schweiz. Nach dem Krieg kehrte er nach Ungarn zurück und studierte Jura. Er begann für Zeitungen zu schreiben, was ihm 1953 ein Berufsverbot einbrachte. Nach der ungarischen Revolution gelingt ihm 1957 die Flucht nach Österreich.

In Wien wird Lendvai 1959 österreichischer Staatsbürger und findet seine journalistische Heimat. Er schreibt für Die Presse und die Neue Zürcher Zeitung. Er macht sich einen Namen als gründlicher Kenner der politischen Szene in den kommunistisch beherrschten Ländern. 1982 wird er zum Leiter der Osteuroparedaktion des ORF berufen und wird später Intendant von Radio Österreich International. Lendvai ist Mitbegründer und bis heute Chef der angesehenen Zeitschrift Europäische Rundschau und Kolumnist des Standard. In der ARD war er Dauergast in Werner Höfers "Internationalem Frühschoppen".

Und wie die DDR-Stasi blieb auch die ungarische ÁVH nicht untätig. Sie bespitzelte Lendvai und versuchte ihn als Agenten anzuwerben - vergeblich. Als er in den siebziger Jahren für den ORF aus Ungarn berichtete, waren gleich mehrere Personen auf ihn "angesetzt".

"Ja, Berichte über Gespräche von vor über 40 Jahren mit Paul Lendvai stammen von mir", bekannte András Heltai-Hopp nun im Pester Lloyd. "In der Zeit der totalitären Diktatur war es die Pflicht eines jeden, der im westlichen Ausland arbeitete, über seine Gespräche mit Bürgern aus dem Westen schriftlich zu berichten. Diese sicher nicht ruhmreiche Verpflichtung nahm ich auf mich. Das habe ich schon damals bedauert", rechtfertigte Heltai-Hopp sich. Als "Agent" lasse er sich aber nicht abstempeln.

Heltai-Hopp war nicht der einzige, der seine "Pflicht" erfüllte. Lendvai fand im Historischen Archiv der Staatssicherheitsdienste (ÁSZTL/"Gauck-Behörde") weitere Prominente. Und das löste einen Sturm in der ungarischen Intellektuellen- und Journalistenszene aus: Unter dem Decknamen "Galambos" berichtete György Szepesi, einst Freund Lendvais und als Fußballkommentator eine nationale Institution. Auch Gábor Spánn ("Gábor Harmat"), Wiener Korrespondent der ungarischen Presseagentur MTI, die Journalisten László Endre Lóránt ("Urbán") und Ervin Földényi ("Lehel") sowie der Schriftsteller und Dramaturg Imre Bencsik ("Budai I") lieferten Berichte über Lendvai an die ÁVH.

Doch auch für Lendvai hatten diese Treffen nicht nur nostalgische Gründe, sie waren für ihn auch eine willkommene Informationsquelle. Und Lendvai hätte eigentlich wissen müssen, daß nach der Heimkehr hinter den "Eisernen Vorhang" (der für Ungarn schon immer weit löchriger war als für DDR-Bürger oder Rumänen) bei jedem Journalisten ein "Bericht" fällig war, entweder dem Chefredakteur oder direkt an den ÁHV ausgehändigt. Das war Praxis in allen kommunistischen Ländern - und es ist nicht nur eine Tradition totalitärer Regime. In Zeiten des Kalten Krieges lieferten beispielsweise auch britische Journalisten, die sich als Patrioten sahen, nach Auslandsreisen nicht nur Reportagen aus fernen Ländern bei den Redaktionen ab, ihre "Berichte" gingen immer auch an den Foreign Intelligence Service (heute MI6).

Viele weiter in Diensten der Nationalen Sicherheit tätig

Lendvais Vorstoß hat die Stasi-Debatte in Ungarn neu entfacht. Das Bild Ungarns als "lustigste Baracke" im kommunistischen Lager hat Kratzer bekommen. Heltai-Hopp hat recht, wenn er zu bedenken gibt, daß "zahlreiche führende Politiker des Ancien Régime, die dieses System der zwingenden Berichterstattung organisiert und bewegt, die Berichte bestellt, erhalten und genutzt haben, seit der Wende als Bona-Fide-Politiker gelten". Sie seien in allen Parlamentsparteien zu finden. Speziell bei den "Diensten der Nationalen Sicherheit" versähen bis heute "zu 60 bis 70 Prozent" jene Leute ihren Dienst, die auch schon vor der Wende dort tätig waren.

Paul Lendvai FOTO: kremayr/scherían


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