© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/06 27. Januar 2006

Pankraz,
die Giftspritze und der Kinderbuch-Schreiber

Was ist schlimmer, schnelle Hinrichtung oder jahrzehntelanger Aufenthalt in der Todeszelle plus schließliche Hinrichtung? Das hat sich Pankraz, einst jahrelanger Polithäftling und mithin erfahrener Knastologe, angesichts der Zustände im amerikanischen Justizwesen schon oft gefragt. Jetzt haben sie dort einem sechsundsiebzigjährigen (Ex-)Gangster die Giftspritze gegeben, der - wie so viele andere seinesgleichen - über zwanzig Jahre lang in der Todeszelle gesessen hatte. Er war darüber blind, taub und zuckerkrank geworden, konnte nicht mehr laufen, mußte im Rollstuhl in den Hinrichtungsraum gefahren werden.

An sich gelten die langen Wartezeiten auf die Hinrichtung in den USA als zivilisatorische Errungenschaft. Die Verurteilten, so offenbar das demokratische Kalkül, sollen sich ordentlich wehren dürfen, sollen die Gelegenheit erhalten, auch die letzten, allerletzten Möglichkeiten zu Revision, Neuaufrollung ihres Falles, Begnadigung, Amnestie auszuschöpfen. Und ist nicht das Möglichst-lange-Leben, auch wenn es ein Leben unter täglicher, ganz konkreter und hautnaher Todesnot ist, immer noch besser als früher Tod und gewaltsam herbeigeführtes, naturwidriges Sterben?

Aber man kann hier verschiedene Gegenrechnungen aufmachen. Zunächst stellt sich die Frage nach der Gerechtigkeit. Werden Delinquenten wie besagter blinde Altgangster nicht doppelt und dreifach bestraft, und ist das nicht ungerecht angesichts des Grundsatzes, daß es für jede Untat nur eine Strafe geben soll, in diesem Falle also Tod oder Lebenslänglich? Die Insassen der Todeszelle, die erst nach Jahrzehnten hingerichtet werden, erfahren faktisch beides, Tod und Lebenslänglich. Ein Aufenthalt im Hochsicherheitstrakt über zwanzig, dreißig Jahre hinweg gilt auch in Amerika als Äquivalent für Lebenslänglich.

Zwanzig, dreißig Jahre Knast - der Häftling wird darüber zu einem ganz anderen Menschen, wechselt seine Identität, verliert jeglichen Kontakt zu seinem früheren Leben. Manche gehen als Teufel hinein und kommen als Engel wieder heraus (oder eben nicht heraus), wie jener Mörder und Gewaltapostel, den sie kürzlich ebenfalls exekutiert haben, der sich aber während seiner fünfundzwanzigjährigen Wartehaft zum berühmten Kinderbuchautor und glaubhaften Friedensprediger gewandelt hatte. Wurde da wirklich noch ein Mörder seiner gerechten Strafe zugeführt? Oder nicht doch ein überzeugter Menschenfreund hinterrücks und schlichtweg umgebracht?

Auch Gerechtigkeit ist letztlich eine Sache von Zeit und Raum. Und ein Zuckerlecken war die lange Haft für den Kinderbuchautor gewiß nicht, selbst wenn er das eigentlich märchenhafte Privileg genoß, einen Bleistift oder vielleicht sogar ein Laptop haben und schreiben zu dürfen. Im kommunistischen Zuchthaus von Waldheim oder Torgau, wo Pankraz seinerzeit einsaß, war der Besitz von Bleistiften und Schreibpapier strengstens verboten.

Konnte man in Torgau das Schreiben nicht lassen, mußte man heimlich den weißen, unbedruckten Rand vom Neuen Deutschland, der einzigen Lektüre, die einem in die Zelle hereingeworfen wurde, abtrennen und ihn mit feuchtgemachtem "Rosodont", einem volksdemokratischen Zahnpasta-Ersatz, einschmieren. Danach galt es, seinen Aluminium-Eßlöffel am unteren Ende irgendwie ein bißchen anzuschleifen, ihn rauh zu machen, und damit ließen sich dann kurze Mitteilungen oder Gedichte, sogenannte Haikus, auf den rosodontierten ND-Rand kritzeln. Eine ebenso strapaziöse wie vergängliche Prozedur, die zudem ständig Gefahr lief, vom Kalfaktor an das Wachpersonal denunziert zu werden.

Dennoch, der inzwischen hingerichtete Kinderbuchautor hatte es schwerer, trotz seines Laptops. Denn er saß ja nicht nur einfach im Gefängnis oder im Lager, er saß in der Todeszelle, und zwar jahrzehntelang. Das Leben wurde ihm nicht nur drastisch eingeschränkt und reduziert, sondern er wurde die ganze, unendlich lange Zeit über täglich, stündlich, beim Einschlafen wie beim Aufwachen unmittelbar und direkt mit dem Tode bedroht. Er stand unentwegt in der Spannung, sofort den letzten Gang antreten zu müssen. Jederzeit konnte die tödliche Nachricht eintreffen, daß dieses oder jenes Wiederaufnahmeverfahren ins Leere gelaufen, dieses oder jenes Gnadengesuch verworfen worden sei.

Verwandelt man sich unter solchen Bedingungen nicht schon zu Lebzeiten in einen Toten, besser: in einen Untoten, dessen Reflexe und Gedanken nur noch um eine einzige finstere Sache kreisen: das Sterbenmüssen, die letale Injektion bzw. den letalen Stromstoß, das letale Geröstetwerden? Heideggers eindrucksvolle Theorie vom "eigentlichen" Leben durch intensives "Eingedenken des Todes" gerät zur grellen Karikatur. Der Giftspritzen-Kandidat denkt ständig an den Tod, doch dies Eingedenken befeuert ihn nicht zu kraftvollen Lebenstaten und anspruchsvollen Gedanken an die Ewigkeit, sondern es lähmt seinen Geist nur noch.

In den ersten Monaten und Jahren mag er noch leidenschaftlich gegen das Verhängnis ankämpfen, mag mit seinem Anwalt knifflige Verteidigungspläne erörtern und mit dem Anstaltspfarrer lang und breit über göttliche Gnade diskutieren. Aber allmählich läßt die Energie nach und macht einem stumpfen Kismetglauben Platz. Spätestens nach zehn Jahren hat er sich voll an die Todessituation "gewöhnt", kann ihr nur noch mit müdem Zynismus begegnen. Spätestens nach zwanzig Jahren ist er blind und taub für die äußere wie für die transzendente Welt, selbst wenn er körperlich noch gesund ist und nicht im Rollstuhl fahren muß.

So also sieht, nach allem, was die Psychologie darüber zu wissen glaubt, das Schicksal der meisten hingerichteten Täter in den USA aus. Es gibt viele Argumente gegen die Todesstrafe. Gegen die Kombination "Todesstrafe plus Lebenslänglich" braucht man gar keine Argumente.


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