© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/06 27. Januar 2006

Vom Eigensinn der Realitäten
Der Mensch ist zur Kultur verdammt: Arnold Gehlen und die Philosophie des Lebensernstes
Jost Bauch

Am 29. Januar 2004 jährte sich der Geburtstag des großen deutschen Philosophen und Soziologen Arnold Gehlen zum hundertsten Mal (JF 6/04), am 30. Januar 2006 steht sein dreißigster Todestag an. Aus diesem Anlaß findet an der TU Dresden unter der Leitung von Karl-Siegbert Rehberg, dem Lehrstuhlinhaber für soziologische Theorie, vom 26. bis 28. Januar ein internationaler Kongreß statt: "Arnold Gehlen - Zu Genese und Aktualität seines Werkes - Debatten zum 30. Todestag".

In Leipzig geboren, studierte Arnold Gehlen nach dem Besuch des Thomas-Gymnasiums in Leipzig und Köln Philosophie, Deutsch, Kunstgeschichte und war in Physik und Zoologie eingeschrieben. 1927 promovierte er, 1930 wurde er im Fach Philosophie habilitiert. Schon mit dreißig Jahren wurde Gehlen als Nachfolger von Hans Driesch Ordinarius für Philosophie an der Universität Leipzig, 1938 wurde er auf den Kant-Lehrstuhl nach Königsberg berufen und 1940 nach Wien. Wie alle "reichsdeutschen" Professoren wurde er dort 1945 amtsenthoben. Doch bereits 1947 wurde er wieder ordentlicher Professor für Soziologie an der neu gegründeten Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer und 1962 folgte er dem Ruf auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für Soziologie an der Technischen Hochschule Aachen.

Arnold Gehlen kam wie Max Scheler und Helmut Plessner von der philosophischen Anthropologie und widmete sich als Grundmotiv seines gesamten Lebenswerkes der Frage, wie das existenzbedrohte, schwankende, instinktarme, "entartungsbereite" und antriebsüberlastete Mängelwesen Mensch phylo- und ontogenetisch überleben könne. Mit dieser anthropologischen Fragestellung, die er in seinem frühen Hauptwerk "Der Mensch" voll entfaltete, begründete er gleichsam die Soziologie aus den naturhaften Bestimmungen des Menschscheins, denn der Mensch ist nach Gehlen von Natur zur Kultur verdammt: als instinktverunsichertes Mängelwesen bedarf der Mensch eines kompensatorischen Instinktersatzes, der sozialen Institutionen, die die innere biologische Führung des Menschen durch eine äußere soziale ersetzen.

Mit Friedrich Nietzsche spricht Gehlen vom Menschen als einem "nicht festgestellten Tier", das sich durch die soziale Überformung seines Verhaltens als Kulturleistung selbst feststellen müsse: Das plastische Mängelwesen rettet sich durch institutionelle Verpflichtung. Institutionen ermöglichen die "Verlagerung der Antriebsmomente in den Gegenstand" und führen so zur "Entlastung" als psychischer Innenstabilisierung. Institutionen stehen für "Transzendenzen ins Diesseits", es kommt zu einer Trennung von "Motiv und Zweck" und zu einer "Umkehr der Antriebsrichtung", so daß der Mensch von den verpflichtenden sozialen Zusammenhängen her motiviert wird. Dies führt zu einer "Hintergrundserfüllung" und zur "Versachlichung der Triebe".

Manches rituell geschützte Tier wird als Nutztier entdeckt

In Anlehnung an Emile Durkheim und in Abgrenzung zum anthropologischen Funktionalismus von Malinowski leitet Gehlen die Institutionen nicht aus den unterschiedlichen Bedürfnissen des Menschen ab, sondern sieht deren Ursprung im "darstellenden Verhalten" der ursprünglichen Rituale. Riten mit ihrer Chance der Nachahmung und Wiederholbarkeit stellen das Verhalten auf Dauer bis zur institutionellen Verfestigung. Institutionen gewinnen dann unabhängig von ihrem ursprünglichen Gründungs- und Verfestigungszusammenhang sekundäre Zweckmäßigkeiten, so beispielsweise, wenn das rituell vor Tötung geschützte Tier im Rahmen der neolithischen Transformation als Nutztier entdeckt wird. Alle großen Institutionen sind nach Gehlen rituellen Ursprungs und ihre aktuellen Zweckmäßigkeiten historisch erst zugewachsen. Institutionen sind so vielfach "zweckfrei" entstanden und haben die Bedürfnisse des Menschen mitgeformt, die sich sodann an Institutionen geheftet haben.

Gehlen hat mit dieser komplexen und subtilen Institutionentheorie die Soziologie maßgeblich geprägt. Kritisch zu vermerken bleibt lediglich der Universalismus seines Institutionenbegriffs, der von der Sprache und unmittelbaren Handlung bis zur komplexen Organisation alles subsumiert. Besser wäre es oftmals, von "Sozialregulationen" zu reden, von denen ein bedeutender Teil Institutionen sind.

Die Institutionentheorie bietet für Gehlen den entscheidenden Bezugspunkt zur konservativen Kritik an der Gegenwart, wie sie sich beginnend mit der Aufklärung bis hin zur 68er-Revolution entwickelt hat. Die technische wie auch gesellschaftliche Entwicklung der Moderne führt nach Gehlen dazu, daß der Effekt der Motiventlastung, die "vom Eigensinn der Realitäten uns oktroyierte Sollform des Umgangs mit ihnen", nicht mehr greift.

Wie er in seinem Buch "Die Seele im technischen Zeitalter" (1957) schreibt, wird die moderne Technik so komplex und formal, daß sich der Umgang mit ihr "entsinnlicht", so daß der Entlastungseffekt ausbleibt. Gleichzeitig verlieren in der Moderne die Institutionen an Bedeutung, womit sich der Mensch nicht mehr an einer "Sollsuggestion" eines Gegenstandes oder Institution orientieren kann. Notwendigerweise führt dies zu einem "neuen Subjektivismus" und zu einer "Psychisierung des Daseins". Der Mensch "primitivisiert", er bleibt durch die nicht mehr gelingende Sachumlenkung seiner Triebe und Bedürfnisse auf sich selbst zurückgeworfen. Die Psychisierung führt letztlich zur Vorherrschaft des "Humanitarismus" und zur "Moralhypertrophie", wie in seinem grandiosen Spätwerk "Moral und Hypermoral" (1969), einer scharfzüngigen Abrechnung mit dem Zeitgeist des Nachkriegsdeutschlands, beschrieben. Die pluralistische Ethik reduziert sich auf eine "überdehnte Hausmoral" und ein "elargiertes Sippenethos", so entsteht eine Philosophie des "Massenlebenswertes", der Wohlfahrtsstaat expandiert ohne Maß, bis er in unseren Tagen wie ein Kartenhaus zusammenbricht.

Lange vor Fukuyama sah er das Ende der Geschichte

Schon hier wird die Aktualität Gehlens für die Beschreibung der modernen Gesellschaft sichtbar. Als besonders aktuell hervorzuheben ist Gehlens These vom "posthistoire". Lange bevor Francis Fukuyama das "Ende der Geschichte" propagierte, sprach Gehlen von der "kulturellen Kristallisation", die dann eintritt, wenn eine gegebene Kultur ihre wesentlichen Variationsmöglichkeiten ausgeschöpft hat. Für den Westen hat er diesen Zustand diagnostiziert. Dies gilt für die Philosophie, die Politik, die Musik, die bildenden Künste, wo nur noch Wiederauflagen und Neukombinationen des schon Gegebenen möglich sind. Und je banaler diese Wiederauflagen sind, desto aufgeblasener werden Minimal-Veränderungen gefeiert. Es kommt zu einer "Unaufhörlichkeit der Ereignismassen" ohne wirkliche Steigerungsmöglichkeit. So bleibt, wie Rehberg schreibt, "Sacherledigung gewissermaßen als 'Abwicklungsethos' übrig; der Aufgeregtheit der Zeiten soll mit dem kühlen Blick konservativer Distanz begegnet werden".

 

Dr. Jost Bauch lehrt Soziologe an der Universität Konstanz.

 

Arnold Gehlen, aufgenommen am 26. Januar 1973: Aufgeregtheit mit konservativer Distanz begegnen Foto: sv bilderdienst

Die von Karl-Siegbert Rehberg herausgegebene Arnold-Gehlen-Gesamtausgabe erscheint im Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main.

Von Karlheinz Weißmann gibt es die lesenswerte Monographie "Arnold Gehlen. Vordenker eines neuen Realismus" (Edition Antaios, 2000).


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