© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/06 03. Februar 2006

Die Woche
Individuelles Opfergedenken
Fritz Schenk

Am 27. Januar 1945 befreite die nach Westen vorrückende Sowjetarmee die überlebenden Opfer des nationalsozialistischen Vernichtungslagers Auschwitz. Die furchtbaren Bilder der armseligen, dem Verhungern nahen zerlumpten Gestalten - Greise, Männer, Frauen und Kinder - erschüttern auch die Nachgeborenen, die von den Schrecken des Krieges und des Nationalsozialismus nicht die geringste eigene Vorstellung haben. Seit jüngster Zeit ist der 27. Januar Gedenktag an die Opfer des Holocaust. Aus diesem Anlaß hat sich Salomon Korn, der stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, in einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu Wort gemeldet.

Korn beklagt darin eine Tendenz, die mit dem Wegsterben der letzten noch lebenden Zeit-zeugen Platz greift, das nämlich die Singularität des Holocaust verblassen und Tendenzen zunehmen könnten, die jüdischen Opfer mit anderen des National- oder Sowjetsozialismus oder gar mit Bomben- oder Vertreibungsopfern "gleichzusetzen" oder - noch schlimmer - Täter-Opfer-Rollen zu vertauschen. Man spürt aus jeder Zeile die Warnung, nicht wieder in Betrachtungen zurückzufallen, wie sie im sogenannten Historikerstreit Ernst Nolte ungerechtfertigt unterstellt worden waren.

Dieser Grundton und historische Übertreibungen sind es, die auch bei im braunen wie roten Widerstand überlebenden Nichtjuden Unmut auslösen. So wenn er zum Beispiel vor "distanzierter Erinnerung" und "einer gefühlsmäßigen Distanz" warnt, "die sich gegen nach wie vor notwendige Fragen zu immunisieren sucht - etwa gegen jene, warum sich eine Mehrheit der Deutschen einst für die Unmenschlichkeit entschieden hatte". Die 43 Prozent Wähler der Nationalsozialisten bei der letzten noch einigermaßen freien Reichstagswahl waren nicht "eine Mehrheit der Deutschen", und es gehört auch zur historischen Wahrheit, daß sich nicht wenige davon schon bald von Hitler distanziert hatten. Dies ja doch gerade wegen der verbrecherischen NS-Rassenpolitik, und nicht wenige Juden verdankten ihr Überleben ebensolchen Einsichtigen.

Nicht hinzunehmen ist auch, daß Korn Plaketten und "Stolpersteine" (die in Bürgersteige eingelassenen Erinnerungsplaketten an frühere Wohnorte ermordeter Juden) hauptsächlich seinen Glaubensbrüdern vorbehalten sehen will. Mein Ort der Trauer und Erinnerung an Despotie und Unmenschlichkeit liegt in einem Dorf in Sachsen-Anhalt. Doch ich kann meinen Kindern und Enkeln in meinem Elternhaus weder die alte Waschküche zeigen, in der mein Vater von Gestapo-Schlägern furchtbar mißhandelt wurde, noch kann ich vor der Haustür eine Gedenkplakette einsetzen, wo ihn die Stasischergen nach tagelangen Verhören halbtot abgesetzt hatten und er noch in derselben Nacht verstorben war. Das Haus hat das Honecker-Regime enteignet, und seine "redlichen Erwerber" wurden vom ersten vereinigten Bundestag zu rechtmäßigen Eigentümern erklärt.

Dennoch ist und bleibt der Holocaust auch für mich nach wie vor ein von seiner unmenschlichen, für den normalen Menschenverstand unvorstellbaren Brutalität ausgeführtes einmaliges Verbrechen. Es ist nicht mit den andern politischen Verbrechen des vorigen Jahrhunderts - und auch noch unserer Gegenwart - gleichzusetzen. Aber das Erinnern von Opfern oder deren Hinterbliebenen bleibt ebenso auch ein individueller Vorgang.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen