© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/06 03. Februar 2006

"Nichts geschieht aus dem Stegreif"
Offenheit für das Neue, Rückbindung an die Herkunft: Adalbert Stifter bietet geistiges Rüstzeug für morgen
Thorsten Hinz

Hat das zurückliegende StifterJahr tatsächlich zu einer Neuaneignung des Dichters geführt? Das wohl nicht, aber immerhin wurde klargestellt, daß Arno Schmidts Versuch seiner letalen Erledigung mißglückt ist. Schmidt hatte 1958 in einem legendären Rundfunkessay kritisiert, daß in Stifters Hauptwerk, dem Roman "Der Nachsommer", die französische Revolution von 1789 - "unser Aller Mutter" - und die moderne Welt überhaupt so gut wie gar nicht vorkämen. Er hatte Stifter als "sanften Unmenschen" bezeichnet, denn: "Nichts geschieht aus dem Stegreif, alles nach endlos tüftelnder Überlegung (...): wir restaurieren Kirchen, und ehren das Mittelalter, im sorgfältig geregelten, durchaus staatserhaltenden Müßiggang."

Heute versteht man solche Sätze anders. Die Beschwörung des Fortschritts und der Revolutionen als Lokomotiven der Geschichte transportiert kein Glücksversprechen mehr, sondern Skepsis, wenn nicht Furcht. Wir haben begriffen, daß die Auslöschung des Mittelalters die Städte häßlich und unwirtlich gemacht hat. Die Fähigkeit zum Müßiggang erscheint am Ende der Arbeitsgesellschaft als existenzerhaltend. Wenn sie sogar noch "staatserhaltend" wirkt, um so besser in einer Gesellschaft, die nichts so sehr fürchtet wie die gewalttätige Entladung sozialer Spannungen.

Die "tüftelnde Überlegung" könnte als Bürgertugend wiederentdeckt werden: als die Fähigkeit zum Maßhalten, zur Reflexion und zur Kultivierung des Alltags. Dagegen ist Stegreifhandeln - "Spontanität" - oft nur eine kalkulierte Verhaltensweise, um die Kompatibilität mit der Arbeitswelt nachzuweisen, oder ein forcierter Ausdruck von Infantilität und Verantwortungslosigkeit. Könnte es sein, daß Stifters "Nachsommer" eine konservative, eine aktuelle Utopie enthält?

Ich-Erzähler lebt vorbildlich, nämlich kapitalgedeckt

Äußerlich geschieht in dem Roman nicht viel. Der junge Ich-Erzähler Heinrich Drendorf ist der Sohn eines reichen Wiener Kaufmanns. Er muß sich keinen Broterwerb suchen, sondern kann sich in Natur, Wissenschaft, Kunst und Philosophie vertiefen. Seinen wichtigsten Lehrer, den Freiherrn von Risach, lernt er auf einer Bergwanderung kennen. Risach ist ein ehemaliger hoher Staatsbeamter und Besitzer des Asperhofes, dessen Erträge er für den Erhalt von Kulturgütern nutzt. Heinrich lebt im Vorgriff auf sein Erbe und von den Ersparnissen, die sein Vater zinssicher für ihn angelegt hat.

Das ist, anders als Arno Schmidt nahelegt, keineswegs parasitär, sondern vielmehr ein Lebensmodell der postindustriellen Gesellschaft. Statt sich auf umlagefinanzierte soziale Sicherungssysteme zu verlassen, bestreitet er den Lebensunterhalt durch Kapitaldeckung. Das kann für Deutschland, wo nach wie vor viel Kapital vorhanden ist, vorbildlich sein.

Adalbert Stifter (1805-1868) ist alles andere als ein weltfremder Idylliker. Die Welt, die er entwirft, steht am Anfang großer Veränderungen. Die verhaltene Nachsommer-Stimmung, in der sie registriert wird, mag durch die Lebensgeschichte des Autors bestimmt sein. Heute entspricht sie der geistigen Disposition eines alternden Landes wie Deutschland. Die größte Veränderung, die sich im "Nachsommer" ankündigt, ist die Globalisierung. Heinrichs Rückzug vor ihr in die geistige Provinz ist keine Flucht, sondern der Versuch, diese Entwicklungen aus der Distanz besser und tiefer zu verstehen und sich ihr desto souveräner stellen zu können.

Der alte Risach sagt zu ihm: "Wie wird es sein, wenn wir mit der Schnelligkeit des Blitzes Nachrichten über die ganze Erde verbreiten können, wenn wir selber mit großer Geschwindigkeit und in kurzer Zeit an die verschiedensten Stellen der Erde gelangen werden können? Werden die Güter der Erde da nicht durch die Möglichkeiten des leichten Austauschens gemeinsam werden, daß allen alles zugänglich ist?" Und weiter: "Jetzt kann sich eine kleine Landstadt und ihre Umgebung mit dem, was sie hat, was sie ist und was sie weiß, absperren; bald wird sie es aber nicht mehr sein, sie wird in den allgemeinen Verkehr gerissen werden. Dann wird, um der Allberührung genügen zu können, das, was der Geringste können und wissen muß, um vieles größer sein als jetzt. Die Staaten, die durch Entwicklung des Verstandes und durch Bildung dieses Wissen zuerst erwerben, werden an Reichtum, an Macht und an Glanz vorausschreiten und die andern sogar in Frage stellen können."

Das klingt wie die Beschreibung einer Wissens- und Informationsgesellschaft. Derjenige ist den anderen voraus, der geistiges Kapital angehäuft hat und mit seinem Finanzkapital verschmelzen kann: eine Synthese, die eine "eigene produktive Existenz" entfaltet (Meinhard Miegel). Diese Art der Wertschöpfung hat sich von der Erwerbsarbeit alten Stils abgekoppelt. Das kann sich potentiell auch als Vorteil erweisen, denn die Arbeit bietet zwar Entfaltungsmöglichkeiten, sie zwingt die Individuen aber auch in Entfremdungsprozesse hinein. Nun ist die Gelegenheit, nach neuen Möglichkeiten der menschlicher Selbstverwirklichung zu suchen. Es werden, so der alte Risach, ganz andere Formen des Lebens kommen, "wie sehr auch das, was dem Geiste und Körper des Menschen als letzter Grund innewohnt, beharren mag".

Die Offenheit für das Neue ist nicht voraussetzungslos, sie bedarf bei Stifter der Rückbindung an die Herkunft. In ihr wird der "letzte Grund" des eigenen Menschseins konkret und erfahrbar. So erhält Heinrich von der Mutter ihre Goethe-Ausgabe überreicht. In dieser Konstellation verschmelzen kulturelle Tradition und familiäre Hinterlassenschaft zum verpflichtenden Erbe. Heinrich unternimmt mit seinem Vater eine Reise in dessen Heimat, die unspektakulär ist, ihn den Vater aber besser begreifen läßt, "der ohne Aufheben mehr war, als der Sohn geahnt hatte".

Die Demut, die diese Erkenntnis einschließt, ist ein Schutz gegen Selbstüberhöhung und dient letztlich der Einfügung in eine kosmische Ordnung, die man nicht straflos verletzt. Denn das menschliche Wissen ist begrenzt, Allmachts- und Machbarkeitsphantasien führen zu hybriden Konsequenzen. "Werden Winde, Wolken, Regen nicht anders? Wie viele Millionen Jahre müssen verfließen, bis ein menschliches Werkzeug die Änderung messen kann?"

Stifter gibt der organischen Entwicklung den Vorzug vor revolutionären Umstürzen: "Wer plötzlich etwas so Neues erfinden wollte, daß weder den Teilen noch der Gestaltung nach ein Ähnliches dagewesen ist, der würde so töricht sein wie der, der fordern würde, daß aus den vorhandenen Tieren und Pflanzen sich plötzlich neue, nicht dagewesene entwickeln." Diese Torheit ist heute mehr als graue Theorie, wie die Versuche im 20. Jahrhundert zur Realisierung von Gesellschaftsutopien und jüngst die Perspektiven der Gentechnologie beweisen.

Die kosmische Ordnung verletzt man nicht straflos

Der alte Risach kümmert sich um die Restaurierung verfallener Kirchenbauten im Land und läßt in den Werkstätten auf dem Asperhof alte Möbel und Nutzgeräte wieder herrichten. "Wenigstens Achtung vor den Leuten, die vor uns gelebt haben, könnte man aus solchen Bestrebungen lernen (...), statt daß wir jetzt gewohnt sind, immer von unseren Fortschritten gegenüber der Unwissenheit unserer Voreltern reden zu hören. Das große Preisen von Dingen erinnert zu oft an die Armut von Erfahrungen."

Seinen Spott gegenüber einer unreflektierten Moderne und ihrem Drang zur "Innovation" um jeden Preis verbindet er mit der Warnung davor, das Alte um seiner selbst willen zum Fetisch zu erheben. Es komme darauf an, welche Gegenstände den praktischen Anforderungen besser entsprechen. Es geht darum, abzuwägen, zu unterscheiden, in längeren Zeiträumen zu denken, gegebenenfalls Verzicht zu üben. Auch das ist eine notwendige Eigenschaft einer älter und darüber hoffentlich weiser gewordenen Gesellschaft. Meinhard Miegel: "An die Stelle ständiger Expansion wird in vielen Lebensbereichen kreativer Um- und mitunter auch Rückbau treten. Primär quantitatives Denken und Handeln wird durch qualitatives ersetzt."

Die Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution findet im Roman indirekt statt. Der Ich-Erzähler stellt fest, daß die Kluft zwischen Gebildeten und Ungebildeten ständig größer würde und kritisiert, daß die soziale Kluft auf dem Asperhof durch die getrennte Einnahme der Mahlzeiten noch betont würde. Der alte Risach stimmt ihm zu, bezweifelt aber, daß eine gewaltsame Gleichmacherei gut und von der Dienerschaft gewollt sei.

An anderer Stelle warnt er vor der Gefahr des ideologischen Fanatismus und innerweltlicher Erlösungsideen, die das Individuum sich selbst verfehlen lassen. Es sei eine "schwerste Sünde, seinen Weg nur ausschließlich dazu zu wählen, wie man sich so oft ausdrückt, der Menschheit nützlich zu werden. Man gäbe sich selber auf und müßte in den meisten Fällen im eigentlichen Sinne sein Pfund vergraben."

Evolutionär stellt er sich auch den Staat vor. Er solle weder erstarrt noch Selbstzweck sein, andererseits sei anzuerkennen, daß seine Existenz durch Notwendigkeiten begründet ist. Deshalb dürften die, wie man heute sagen würden, "Reformen" keinen persönlichen Affekten und Ambitionen entspringen. Eine "neue Ordnung der Dinge" könne nur Bestand haben, wenn "sie auf das Wesentliche ihrer Natur gegründet" sei. Erst dann schützt sie "vor erneuerten Unordnungen" und "wiederholter Kraftanstrengung".

In Stifter steckt viel mehr Zukunft, als man vor fünfzig Jahren glauben wollte.

Stifter, "Umgestürzte Baumwurzel" (Ausschnitt, 1845): Werden Winde, Wolken, Regen nicht anders?


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