© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/06 03. Februar 2006

Das private Refugium der Freiheit
Ein Fotoband führt in die wenig bekannte Welt der politischen und kulturellen Opposition jenseits des Eisernen Vorhangs zwischen 1956 und 1989
Ekkehard Schultz

Über die verschlungenen Pfade von Opposition und Widerstand in den ehemals kommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas legt wohl kaum ein Dokument aus den letzten Wochen so eindringlich Zeugnis ab wie die jüngste Studie Arno Polzins zur Mitarbeit des späteren prominenten Oppositionellen Robert Havemann (JF 3/06). Vom orthodoxen Marxisten, der Berichte über Kollegen und mögliche "Abweichler" von der Parteilinie an das Ministerium für Staatssicherheit lieferte, wandelte sich Havemann allmählich zum Reformkommunisten und schließlich zu einer der am meisten vom MfS überwachten und bespitzelten Personen der DDR.

Damit wird eindrucksvoll klar, wie schmal der Grat war, auf dem sich selbst der vormals treueste Mitarbeiter des Systems bei der geringsten Kritik an Partei und Gesellschaft bewegte. In jeder Abweichung sah die Parteiführung eine Bedrohung, die sie mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterbinden bereit war.

Wie Havemann zuvor als IM andere bespitzelt hatte, so wurden er und seine Freunde seit den sechziger Jahren selbst vom MfS überwacht. Auch kleinste Oppositionsgruppen mußten stets gewahr sein, Zuträger der Staatssicherheitsorganisationen in ihren Reihen zu haben.

Es war daher kein Wunder, daß bestehende Gruppen meist sehr klein blieben und im Regelfall stets in einer gut überschaubaren privaten Sphäre operierten. Schon aus dieser Tatsache ergibt sich, daß grundsätzlich Aufnahmen von Oppositionellen und ihren engen Freunden während ihrer Aktivitäten eher großen Seltenheitswert besitzen - bedeuteten sie doch für alle Fotografierten eine stete Gefahrenquelle.

Um so höher ist es zu bewerten, daß nun mit dem erschienenen Fotoband "Gegenansichten" ein überaus reiches Kompendium an Bildern aus Oppositions- und Dissidentenkreisen im gesamten Ostblock zur Verfügung steht, die zwischen der sogenannten Tauwetterperiode nach Chruschtschows Enthüllungen über die stalinistischen Verbrechen auf dem XX. Parteitag der KPdSU von 1956 und den Revolutionen von 1989/90 entstanden.

Bunt und vielschichtig wie das gesamte Feld der Oppositionellen in einer grauen Zeit, so wirken auch die zumeist amateurhaften Aufnahmen noch heute. Schon damit stehen sie in einem eklatanten Gegensatz zu den offiziellen Propagandafotos der gelenkten Bilderproduktion der staatlichen Agenturen.

Im Gegensatz zu den in Deutschland bekannteren Aufnahmen von DDR-Oppositionellen wie Wolf Biermann, Bärbel Bohley, Lutz Rathenow oder auch dem Pfarrer Oskar Brüsewitz, der sich am 18. August 1976 als Protest gegen die Unterdrückung der Kirche in der DDR in Zeitz öffentlich selber verbrannte, ist das hier präsentierte Material aus anderen ehemaligen Ostblock-Staaten noch nahezu unbekannt.

Das Spektrum umfaßt Ausstellungen und Rockkonzerte ebenso wie Lesungen in privaten Räumen wie zum Beispiel in der Scheune des tschechischen Dissidenten und späteren Staatspräsidenten Vaclav Havel. Auch Aufnahmen von improvisierten Druckereien, in denen Untergrundzeitschriften entstanden, Bilder von Solidaritätskundgebungen für die unabhängige Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc in Polen bis zu den massenhaft besuchten Bestattungen von unter oftmals bis heute ungeklärten Umständen umgekommenen Oppositionellen werden präsentiert.

Der größte Teil der Aufnahmen entstand im engsten privaten Umfeld. Weit geringer ist der Anteil von unabhängigen Kleinstagenturen, die es vor 1989 nur in Polen gab. Hinzu kommen einige Bilder von Fotografen westlicher Organe, die zeitweilig im Ostblock - zum Teil nur kurzfristig - eine Aufnahmeerlaubnis besaßen. Abgerundet werden diese Fotografien durch Funde aus den Archiven der Staatssicherheitsdienste der letzten Jahre.

Wer sich im wahrsten Sinne des Wortes einen realistischen "Einblick" in die Oppositions- und Dissidentenszene des ehemaligen Ostblocks verschaffen will, wird mit "Gegenansichten" bestens bedient. Darüber hinaus ist das Werk jedem, der sich mit der Geschichte der kommunistischen Staaten beschäftigt, zur Wahrnehmung des Blickwinkels der "Anderen" zu empfehlen.

Heidrun Hamersky (Hrsg.): Gegenansichten. Fotografien zur politischen und kulturellen Opposition in Osteuropa 1956-1989. Christoph Links Verlag, Berlin 2005, 195 Seiten, gebunden, 255 Abbildungen, 29,90 Euro


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