© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/06 17. Februar 2006

Im Dienst der Menschheit
Neokonservatismus in den USA: Der Stichwortgeber der Weltmacht und deren Kampf gegen die "Tyrannei in der Welt"
Alexander Griesbach

Unsere Nation ist dem historischen, langfristigen Ziel verpflichtet, die Tyrannei in der Welt zu beenden. Einige tun dieses Ziel als fehlgeleiteten Idealismus ab", erklärte US-Präsident George W. Bush vor zwei Wochen vor dem Kongreß in Washington anläßlich seiner jährlichen "Rede zur Lage der Nation".

Dachte er bei diesen Worten vielleicht an den republikanischen Politiker Pat Buchanan? Derselbe hatte vor einem Jahr eine Konferenz mit dem Titel "Amerikas Sicherheit im Zeitalter des Terrorismus" durchgeführt. Und auf dieser behauptete Michael Ledeen, einer der einflußreichsten Neokonservativen der USA, führendes Mitglied des neokonservativen "think tank" American Enterprise Institute (AEI) und des Jewish Institute for National Security Affairs (JINSA), daß er nie für den Krieg gegen den Irak optiert habe (vgl. Maike Buss in Zeit-Fragen, 28/05). Derselbe Ledeen hatte nicht nur immer wieder zum Krieg gegen den Irak aufgerufen - so zum Beispiel in seinem Buch "The War against the Terror Masters" (2003, 2. Auflage, insbesondere Kapitel 7) -, er erklärte auch in der Jewish World Review, Amerika brauche "von Zeit zu Zeit einen Krieg, um die Tugenden wiederaufzurichten".

Ledeen plädierte aber nicht nur für einen Krieg gegen Irak (wie andere "Neocons", so zum Beispiel Irving Kristol), sondern setzt sich auch für einen gewaltsamen Regimewechsel im Iran, Syrien, Nordkorea und selbst in Saudi-Arabien ein. Diese Regimewechsel müßten durch einen "totalen Krieg" herbeigeführt werden, weil dieser "nicht nur die militärischen Möglichkeiten des Feindes zerstört", so Ledeen, sondern ihn auch an den Punkt bringe, eine "Umkehrung der kulturellen Trends" zu akzeptieren. "Frieden in dieser Welt", so Ledeen, "gibt es erst nach einem Sieg im Krieg."

Leo Strauss und die "versteckten Botschaften"

Anläßlich des "AEI's Annual Dinner" im Februar 2003 erklärte Bush folgendes: " AEI-Gelehrte leisten zentrale Beiträge für unser Land und unsere Regierung, und wir sind dankbar für diese Beiträge." Festzuhalten bleibt, daß einer dieser "Masterminds", nämlich besagter Michael Ledeen, offensichtlich nichts dabei findet, klar belegbare Äußerungen schlicht abzustreiten.

Dieser Vorgang und viele andere Indizien machen deutlich, daß Mitglieder der Regierung Bush und ihr "neokonservatives" Umfeld offensichtlich ein Problem mit der Wahrheit haben (legt man zum Beispiel ihre Aussagen zu den Kriegsgründen gegenüber dem Irak zugrunde). Diese Häufung von nachweisbaren Unwahrheiten, die hier nicht moralisch bewertet werden soll, führt zu der Frage nach den Ursachen und damit zu den Gehalten der neokonservativen Ideologie selbst.

"Der neokonservative Lieblingstext im Hinblick auf das Thema auswärtige Beziehungen - unser Dank gilt hier den Professoren Leo Strauss und Donald Kagan von der Yale-Universität -, ist Thukydides' Text über den Peloponnesischen Krieg." Dieser Satz, entnommen der Schrift "The neoconservative persuasion" des "Gottvaters der Neokonservativen", nämlich Irving Kristol, verweist auf den Einfluß des Philosophen Leo Strauss (1899-1973) auf die Neokonservativen (die deshalb von ihren Gegnern gerne auch als "Leocons" bezeichnet werden). Strauss' Arbeit ist vor allem durch die Auslegung griechischer, christlicher, islamischer und jüdischer Philosophie insbesondere der Antike gekennzeichnet und kreist um Grundfragen des Naturrechts und der Politik. Strauss ging davon aus, daß die Texte antiker Autoren (insbesondere diejenigen Platons) - ganz bewußt von deren Autoren intendiert - eine Art "Subtext", sprich: eine "versteckte Botschaft" enthalten, die nur für wenige erkennbar und bestimmt sei.

Im besagten Thukydides-Text findet sich im "Melier-Dialog" der Satz: "Recht, so wie die Welt heute beschaffen ist, ist nur Sache zwischen an Macht Ebenbürtigen, während die Starken tun, was sie wollen, und die Schwachen ertragen, was sie müssen." Strauss hat einige Male durchblicken lassen, daß er die Vorstellung von einer natürlichen Hierarchie unter den Menschen teilt, nach der es immer Herrscher und Beherrschte geben wird. In der Natur dieser Position liegt es, daß nur eine Elite aufgrund ihrer höheren Einsicht die politisch notwendigen Entscheidungen treffen kann.

Platon vertrat die Überzeugung, daß Entscheidungen, die nicht mit den gesellschaftlichen Wertvorstellungen vereinbar sind, in bestimmten Situationen als "noble Lüge" statthaft sein können; staatliche Propaganda müsse es mit der Wahrheit nicht immer so genau nehmen (Platon, Politeia 389 b). Ob und inwieweit Strauss diese Position teilt, ist nicht erkennbar, da er als Kommentator klassischer Texte schreibt und hinter dieser Rolle zurücktritt. So bleiben seine Arbeiten oft zweideutig und eröffnen den "Vereinfachern" unter den Neocons eine intellektuelle Legitimation. Möglicherweise liegt hier auch eine Erklärung für die offensichtlichen Wahrheitsbeugungen, die immer wieder bei Mitgliedern der Regierung Bush festgestellt werden können: Es könnten, vorsichtig gesagt, Wahrheitsbeugungen aus "höherer Überzeugung" sein.

Religion und Patriotismus als Bindemittel

Religion und Patriotismus sind für die Neokonservativen Instrumente bei der Durchsetzung "rationaler Politik". Strauss deutet sie vor allem als eine Art "Bindemittel", die politische Institutionen und eine Nation zusammenhalten und ohne die Ordnung nicht aufrechtzuerhalten ist. Moralischer Verfall nehme einem Gemeinwesen, so Strauss, die Verteidigungsfähigkeit gegenüber Tyrannei und Totalitarismus.

Angesichts dieser Positionen mag es den einen oder anderen erstaunen, daß die Wurzeln der Neokonservativen bei der politischen Linken liegen. Die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre bewegte viele Geister, sich dem "sozialen Liberalismus" des "New Deal" der Regierung Roosevelt zu öffnen. Erst die gesellschaftlichen Veränderungen der 1960er Jahre, verbunden mit einer Art Deeskalationspolitik der Demokraten gegenüber der Sowjetunion, führte zu einer Polarisierung; frühere Sozialisten, die einmal den Ideen Leo Trotzkis anhingen, mutierten in den 1980er Jahren zu Parteigängern von Ronald Reagan. Hierfür stehen Namen wie zum Beispiel Norman Podhoretz oder Irving Kristol, der zeitweise Herausgeber der CIA-finanzierten Zeitschrift Encounter gewesen war. Diese war aber nicht die einzige Zeitschrift, um die sich die Neocons scharrten; Commentary, American Interest, Public Interest, The New Criterion erhielten Millionen von Dollar aus neokonservativen Stiftungen.

Wie weit Leo Strauss' Einfluß auf die Neocons geht, ist umstritten. Strauss-Kritiker wie die an der Universität von Regina in Kanada lehrende Politologin Shadia Drury sehen in ihm die Ursache allen Neocon-Übels, was sicherlich genauso überzogen ist wie der Versuch, Strauss als einen politikfernen Philosophen darzustellen und seinen Einfluß in Abrede zu stellen: Dies versuchte zum Beispiel Rudolf Walter in einem Beitrag für die Frankfurter Rundschau (27. Juli 2003), als er davon sprach, daß Strauss von der handfesten Politik der Neocons "Welten" trenne.

Nicht zu Unrecht aber verweisen Walter und andere aber auf den christlichen Fundamentalismus und machen diesen für das "kreuzzüglerisch-manichäische" Weltbild der Regierung Bush verantwortlich. Dieser deute, wie Michael Minkenberg, Politikwissenschaftler an der Europauniversität Viadrina in Frankfurt/Oder, in einem Beitrag für Aus Politik und Zeitgeschichte (46/2003) schrieb, den 11. September 2001 als "gerechte Strafe für den moralischen Verfall der Nation und die Befreiung für die Rückkehr zu einem ungebrochenen Nationalismus".

Ins Auge fallen die Verschränkungen von Positionen des christlichen Fundamentalismus mit denen der Neocons, die allerdings aus völlig unterschiedlichen Motiven gespeist sind. Diese Verschränkungen zeigen sich, wie Minkenberg aufzeigt, auch außenpolitisch: einmal im nationalistischen Unilateralismus, der von der christlichen Rechten ohne Einschränkung mitgetragen wird.

Demokratische Revolutionen überall auf der Welt

Dann in der vorbehaltlosen Unterstützung Israels. Woraus sich diese mit Blick auf den christlichen Fundamentalismus motiviert, macht exemplarisch der von Minkenberg zitierte christlich-fundamentalistische Autor John Hague deutlich, der erklärte: "Israel ist die einzige Nation, die durch einen souveränen Akt Gottes geschaffen worden ist. Er hat bei seiner Heiligkeit geschworen, Jerusalem zu verteidigen, seine Heilige Stadt. Wenn Gott Israel geschaffen hat, um es zu verteidigen, dann kämpfen diejenigen, die gegen Israel kämpfen, gegen Gott."

Aus diesem Zitat wird deutlich, daß die immer wieder ins Auge fallende Präferenz für Israel durch die USA nicht unbedingt nur auf den Einfluß jüdischstämmiger Amerikaner unter den Neocons zurückgehen muß, sondern auch christlich-fundamentalistisch grundiert sein kann.

Neokonservative haben immer wieder unterstrichen, daß sie sich als "Revolutionäre" verstehen. So erklärte zum Beispiel Ledeen: "Kreative Zerstörung ist unsere hervorstechende Eigenschaft. Wir tun es automatisch ... Es ist wieder einmal Zeit, die demokratische Revolution zu exportieren." Auch Richard Perle, wichtiger Stichwortgeber der Regierung Bush, hat diese Sicht im März 2005 auf einer AEI-Tagung erneut unterstrichen. Dort erklärte er, die Neokonservativen wollten die "Revolution überall auf der Welt" - und nannte als Beispiele den Irak und Afghanistan, wo die USA geholfen hätten, die "Freiheit" durchzusetzen.

Entsprechend verkündete Bush schon vor einem Jahr in seiner Rede zur Lage der Nation: "Aufgrund der amerikanischen Führung und Entschlossenheit wandelt sich die Welt zum Besseren ... Die Sache, der wir dienen, ist richtig und die Sache der ganzen Menschheit ... Wir können Vertrauen in diese größere Macht (gemeint ist Gott, d. Verf.) haben, die uns durch die Veränderungen dieser Jahre begleitet. Und in allem, was kommen wird, dürfen wir wissen, daß Seine Ziele gerecht und wahr sind."

 

Stichwort: Leo Strauss

Leo Strauss wurde 1899 als Sohn jüdischer Eltern im hessischen Kirchhain geboren und starb 1973 in Annapolis, Maryland. Er studierte in Marburg, Frankfurt und Berlin Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften. 1921 promovierte Strauss bei Ernst Cassirer und hörte im Anschluß Martin Heidegger. 1932 ging er als Rockefeller-Stipendiat (Gutachter: Carl Schmitt) nach Paris und Cambridge (1934-1938). Von dort emigrierte Strauss 1938 in die USA. Er lehrte an der New School for Social Research in New York. 1949 wurde der im Jahr 1944 Eingebürgerte Professor für Politische Philosophie an der University of Chicago.

 

Fotos: Präsident George W. Bush bei einer Videokonferenz mit US-Soldaten im Irak: "Aufgrund der amerikanischen Führung und Entschlossenheit wandelt sich die Welt zum Besseren"


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